Antideutsche Konferenz
November 20th, 2005(http://myblog.de/classless/art/2333728)
In der randvollen Kreuzberger Jerusalemgemeinde erlebte das teils recht weit angereiste Publikum gleich am Freitagabend ein unerbittliches Dementi bequemer Selbstvergewisserung. Während Justus Wertmüller in der Anmoderation des ersten Podiums klarstellte, was alles nicht von der Konferenz zu erwarten sei – die Guilllotine, der Wettbewerb um den besten Kommunismus, die Selbstbeglückwünschung -, wurden danach von Nachtmann und Dahlmann die theoretischen Instrumente ausgepackt.
Auch wenn er sich zuweilen in seinen Nebensätzen und Einschüben etwas verhedderte, wies Clemens Nachtmann der 68er Aneignung der Kritischen Theorie ein politisches Bedürfnis nach Revolte gegen Vermittlung, für die Unmittelbarkeit nach, das u.a. zu einer Spaltung des rezipierten Adorno in einen als brauchbar empfundenen Politik-Adorno und einen vernachlässigbaren, bürgerlichen Kunst-Adorno führte und das somit das Moment des Überfallenwerdens von Erkenntnis genauso überging wie Adornos Verteidigung des “schönen Scheins” als Platzhalter des kommenden Schönen.
Manfred Dahlmann belustigte zunächst mit launigen Verweisen darauf, was er alles nicht mehr sagen müßte, weil wohl jeder der Anwesenden die antideutsche Interpretation des “Fetisch”-Kapitels im “Kapital” auch mitten in der Nacht aufgeweckt sofort referieren könnte (danke, aber das könnte ich nicht). Ebenso fühle er sich nicht in der Positionen einen Priesters, der eine viel gepredigte Bibelstelle noch einmal völlig neu und originell auslegen könnte.
Dennoch wollte er zur Illustration der gesellschaftlichen Folgen der Kritik für die Kritisierenden – der beziehungsmäßigen Isolation nämlich – betonen, was der Fetischcharakter der Ware für Konsequenzen für den Begriff der Beziehung hat. Er führte aus, daß die Beziehung nur als Beziehung auf etwas denkbar ist, daß das nicht auf etwas bezogene Verhältnis somit nichts sei. (Bad news für Nicht-Fuller-Geometrie…)
Historisch sei der monotheistische Gott das verdinglichte Nichts gewesen, daß dem Individuum die Panik angesichts seiner Einzelexistenz genommen habe. Während jedoch die Religion Krisen nur schlecht überstand, sei das Kapital zur erfolgreicheren Panikbewältigung geworden, da es aus Krisen gestärkt hervorgehe und Kritik zu integrieren vermöge. (Nur am Rande der chronologiekritische Aspekt: Dahlmann versicherte in seinem in der Vortragsweise an Douglas Adams erinnernden Ausflug in die Geschichte, daß das römische Imperium ohne eine monotheitische Gottesvorstellung nicht denkbar wäre, was ihm als historisch widersinnig ausgelegt werden könnte, aber auch die Frage nach Reihenfolge und Zeiträumen der römischen Geschichte stellen ließe…)
Da nun “der Kritiker” jedoch kein Identifikationsangebot im Sinne eines verdinglichten Nichts mache, weil die antideutsche Kritik ja nicht mal das “Klasseninteresse der Unterdrückten und Beleidigten” anspreche, wäre eine Vereinsamung die Folge. Junge Hinzugestoßene sollten sich demnach im Klaren darüber sein, daß sie nicht in eine Ersatzfamilie geraten wären.
(In between: wunderbares Abendessen im advena, billiges Frühstück mit spendiertem Luxus am Morgen zurück bei der Konferenz)
Hatten Nachtmann und Dahlmann gerade auch als Doppel eine Art zen-kommunistischer Performance geboten, die den Knochen tiefer begraben, die Trauben höher hängen und die Aspiranten vertreiben sollte, so läßt sich Martin Blumentritt, der als erster Referent des Samstags zum “Abgrund des Liberalismus” sprach, um im Bilde zu bleiben als in Aufbau, Sprache und Inhalt katholisch beschreiben: Sein herummäanderndes Ableitungsgeklapper mit historischen und philosophischen Allgemeinplätzen gemahnte schwer an den “Gegenstandpunkt” und kam mit den unnötig ausführlich Zitaten von Hobbes, Locke, Mill und – als Kritiker – Marcuse nicht über den Erkenntniswert einer Gemeinschaftskundestunde hinaus. “Schon Hegel…”, sang er geradezu oder: “Hier [bei Mills] ist im Grunde schon die faschistische Volksgemeinschaft vorgedacht, die heute Sozialpartnerschaft genannt wird.” Alles zu einfach und zu lang.
Dabei saß daneben Gerhard Scheit, für den dann auch nur eine halbe Stunde blieb, um – als seine Hälfte dieses Podiums – dennoch souverän eine Art “Greatest Hits” abzufackeln: “Demokratie als Begriff der politischen Pädagogik”, Heideggers Freiheit zum Nichts und das Selbstopfer, Leviathan und Behemoth, die Formulierungen des Paradoxen bei Hobbes und Marx. Europäische Intellektuelle würden den Behemoth, den Unstaat als Untier, mittlerweile als Haustier präsentieren, so Boris Groys, der eine möglichst widersprüchliche und unverständliche EU-Verfassung fordert. Dagegen setzte Scheit Paul Bermans Idee einer Rückrufaktion für deutsche Ideologie aus dem Nahen Osten, denn, wie Paul Celan 1962 schrieb: “Die Deutschen haben die Welt nicht zu unterwerfen vermocht, sie durchfaulen sie jetzt.”
Das dritte Podium über die “Demagogen des Sozialstaats” eröffnete Natascha Wilting mit einer Betrachtung des Geschlechterbildes im letzten Bundestagswahlkampf, der das instinktsichere, starke, standhafte Alpha-Tier Schröder als Anführer und sozialstaatlichen Beuteverteiler eines Wolfsrudels inszenierte, gegen den die weiblich-schwache, ferngesteuerte, schwanzlose Merkel als Repräsentantin der pragmatischen Vernunft und des kalten Egoismus stand. (siehe dazu auch Wir haben unser’n deutschen Kanzler 1, 2 und 3) Warum sie allerdings die “titanic” in diesem Zusammenhang so ernst nehmen mußte (was ja auch zuletzt in der Bahamas schon passierte), bleibt rätselhaft.
Uli Krugs “200 Jahre deutsche Ideologie” sah ich leider nicht ganz. Daher hier nur das Zitat über die Parteilichkeit der deutschen Linken: “Hauptsache es kommt von Süden, Hauptsache es kommt von Osten, Hauptsache es kommt von unten.”
“Freunde der Juden – Feinde Israels?” lautete das Motto des dritten Podiums. Sören Pünjer referierte Leerstellen bei Dershovitz, der in Chomskys Hausverlag als dessen Debattenergänzung erschienen ist, und erklärte, warum er Amérys “Der ehrbare Antisemitismus” für nicht mehr auf der Höhe der Zeit hält. Er würdigte die Sisyphusarbeit, die die ja doch nicht gerade vielen israelsolidarischen Antideutschen (“Hier kann man das ja mal sagen”) leisten. Tjark Kunstreich beschrieb die Veränderungen in der Rolle von Juden als Kronzeugen gegen antideutsche Kritik, die sich von Avnerys Antizionismus zu Butlers Gegnerschaft zum jüdischen Staat insgesamt gewandelt habe und las zum Steineerweichen Erklärungen in “sinistra”-Deutsch vor – manchen sicher bekannt aus dem Begleitbuch zu “I can’t relax in Deutschland”.
Das Abschlußpodium zur Prime Time am Samstagabend unter der Überschrift “Was links ist? Die Desertion vom Kollektiv!” machte den Saal noch voller, als er ohnehin schon war. In Claudia Dreiers Anmoderation deutete sich mit dem Hinweis auf den “in Paris im Namen des Islam rasenden Mob” und das “wahnhafte moslemische Familienleben” das spätere Problem schon an. Erst las jedoch Philipp Lenhard von Georg-Weerth-Gesellschaft Köln einen recht zusammengesuchtes “Plädoyer gegen die Politisierung des Privaten” vor, der vielversprechend mit der Abwesenheit des Individuums bei poplinken Theoretikern wie Roger Behrens (da ja “Popkultur total” sei) und der Wirkung der Hartz-IV-Bürokratie auf selbstbestimmte Lebensentwürfe (auch Nichtehen werden zu Bedarfsgemeinschaften) anfing. Dann wurde jedoch das Private so konsequent unter Ausblendung der Anwesenheit von Frauen ebendort verhandelt, daß sogar von “häuslicher Gewalt, die sich gegen den anderen richtet, weil man zum Objektbezug nicht mehr fähig” sei, die Rede war und mit lauter männlichen Beispielen von einer Entwertung oder Wertlosigkeit der Freizeit gesprochen wurde, welche für die meisten Frauen auf der Welt bis heute keine Realität ist.
Justus Wertmüller stieg in seine Überlegungen dazu, was links ist an antideutscher Kritik, mit Literaturhinweisen ein: Heines späte Texte zum Kommunismus, Oscar Wilde “Über die Seele des Menschen im Sozialismus” und Lord Byrons “Ode an Napoleon”, um dann zu einer Verteidigungsrede des First Amendment der US-amerikanischen Verfassung anzuheben. Am Beispiel des Karikaturisten Marlett, der für die bildliche Frage, wie Mohammed heute zum Terror stünde, mit Haßmails überschüttet wurde und daraufhin schrieb, diese zumeist gerade erst immigrierten Moslems, die ihm auch Viren gesendet hätten, wären recht schnell mit dem know how der USA vertraut geworden, jedoch offenbar nicht mit dem know why. Marletts Rede von der “Ware Toleranz” führte Wertmüller zu der Forderung der britischen Moslems nach 7/7 in London, nun besonders in Schutz genommen zu werden. Daß er diese Forderung allerdings damit verglich, daß die Katholiken nach der Bartholomäusnacht besonderen Schutz für sich hätten reklamieren können, machte bereits eine merkwürdige Verdrehung von Mehrheitsverhältnissen offenbar. So schön die Formulierung der “übergroßen Mehrheit der Mitopfer” auch war, faßte sie dennoch das Problem von Minderheiten nicht wirklich; daß in die Zumutungen durch diese Mehrheit außerdem “p.c.” und “hate speech” hineinmußten, leuchtete wieder nicht ein. Ebenso blieb unklar, welche automatische Integration in den USA normalerweise gelingt, die – wie an dem Beispiel Marletts erkennbar – nicht mehr gelingen soll.
Wertmüller machte als Begründungszusammenhang für kollektives Verständnis völlig richtig die Geschichte aus. Das identitäre Kollektiv benutze die “Weltgeschichte als Guillotine, die die Ungleichen gleich macht, in dem sie sie einen Kopf kürzer macht”. Es müsse gegen die Weltgeschichte aufgestanden werden.
Dann kippte der Vortrag in eine 10-Minuten-Haß-Sendung gegen die Rioter in den französischen Vorstädten um. In bösem Ton, der bei anderen Gelegenheiten angebracht gewesen sein mag, geiferte Wertmüller, daß Sarkozy die Jugendlichen zurecht als Gesindel bezeichnet habe, wetterte gegen den “Blödsinn diese Woche in der Jungle World”, wünschte sich, daß “die sich einfach gegenseitig umbringen”. (Zitat-mp3) Die Figur des Provokateurs, den er dann als Vorklatscher des kollektiven Vernichtungswunsches denunzierte, paßte in gespenstischer Weise auf ihn selbst. Der sonst bei aller Kritik am Antirassismus beibehaltene Blick auf die vor dem Selbstausschluß aus der Gesellschaft erfolgte Ausschließung durch die Gesellschaft, die in den banlieues schon baulich überdeutlich ist, fehlte hier völlig. In lächerlicher Weise wurden diejenigen bedauert, die wegen der Riots nicht früh ins Bett kamen, um morgens an ihrem Ausstieg aus dem Elend zu arbeiten zu können.
Wie dieses unfaßbare Gebashe kam, ging es auch wieder, Wertmüller plauderte sich aus, zerplauderte auch die Fragerunde im Anschluß und bekam vom Publikum – das erschien mir fast bemerkenswerter – kein Widerwort. Trauten sie sich nicht, so wie ich, der ich befürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden, um nicht einfach als Antira-Spam ignoriert zu werden? Oder hatten sie wirklich kein Problem damit, wie aus brandstiftenden Jugendlichen – welche gar nicht alle Moslems sind, welche weiterhin dem Staat erfolgreich mehr Geld abnötigen und welche genau wie beabsichtigt den zurecht verhaßten Innenminister und seine Aufstandsbekämpfungstruppe in die Kritik bringen – hier das im gesellschaftlichen Mainstream skandalisierte Gesindel wird, das sich hoffentlich selbst vernichtet?
Diese Auslassungen Wertmüllers und das Ausbleiben der Kritik an ihnen machen mir trotz der insgesamt hervorragenden Veranstaltung einige Sorgen, ob das automatische Belegen der “Bahamas” mit Rassismusvorwürfen mittlerweile dazu geführt hat, daß wirkliche diesbezügliche Warnsignale nicht mehr bemerkt werden.
September 20th, 2007 at 14:12
[…] Banlieue – Randalen (mancher fühlt sich wahrscheinlich unangenehm an die überdeutliche Worte von damals erinnert) und die “vorab – Analysen” von Hardt und […]
January 26th, 2011 at 04:22
[…] Inhalt der gegoogelten Zitate. Es handelt sich dabei nicht um Originalquellen, sondern um einen kritischen Bericht über einen Kongress der Bahamas, der für uns unüberprüfbare Aussagen Justus Wertmüllers […]