Arbeiterbewegung und Verschwörungstheorie
September 3rd, 2006Lesepröbchen aus dem 4. Kapitel, behandelnd das 19. Jahrhundert und somit auch die Arbeiterbewegung.
Dem Programm nach stritten die deutschen Arbeiter nach 1871 im Sinne der Sozialdemokratie für eine internationale Arbeiterrevolution. Doch die Prägung durch den preußischen Militärgeist hatte längst ihre Spuren hinterlassen. Weiterhin beriefen sich die Sozialdemokraten auf Marx, doch sie nahmen aus seinen Ideen eine Auswahl mit deutlicher Tendenz vor.
Marx hatte wegen der zugespitzten Situation von 1848 von einer besonderen Dringlichkeit gesprochen, mit der die Revolution in Deutschland siegen müsse. Aus dieser Dringlichkeit wurde nun in der Massenrezeption durch die deutschen Arbeiter eine Notwendigkeit. Aus der gebotenen Eile und den besonderen Umständen wurde eine Gewißheit, daß die Revolution ohnehin kommen müsse und daß alles nach einem geschichtlichen Plan ablief. Der Gedanke, daß die Arbeiter die Revolution machen müßten, weil sie besonders litten und daher am ehesten an einer Veränderung interessiert sein müßten, wandelte sich zu einem Arbeiterkult, in dem das Leben des Lohnabhängigen glorifiziert und zum Vorschein der kommenden Gesellschaftsordnung erklärt wurde. Marx’ Wort von den “deutschen Zuständen”, die “unter aller Kritik” seien, ging schon völlig verloren im sich durchsetzenden und sich immer religiöser artikulierenden Glauben an die historische Mission der Arbeiterklasse.
Aus dieser Mischung von nationaler Befreiung und sozialer Erlösungmission ging das ideologische Gemisch hervor, dem sich später sowohl die – mit den Nachbarländern geteilte – Kriegsbegeisterung der deutschen Arbeiter verdankte als auch die Entstehung der leninistischen Version des Marxismus, die sich durch ihre Betonung des Klassenkriegs, der eisernen Disziplin, der historischen Gesetzmäßigkeiten und des nationalen Befreiungskampfes auszeichnete. Durch das verherrlichte proletarische Selbstbild steckte zudem der Keim des spätestens unter Stalin bestimmend werdenden Verschwörungsdenkens in dieser Weltanschauung, da in ihr die gute, einheitliche Nation mit der Arbeiterklasse in eins gesetzt wurde.
(mehr Entschwörungstheorie)
September 3rd, 2006 at 15:26
ich finde, hier entlässt du marx zu sehr aus der verantwortung für diese rezeption. das erfuter programm ist zB eigentlich nix anderes als eien zusammenfassung von MEW 23, VII. abschnitt, 24. kapitel, 7. abteilung, s. 789 – 791. und marx (und gerade engels!) standen eiern auffassung v nationalcharacteren auch gar nicht sooo kritisch gegenüber
September 3rd, 2006 at 15:45
Stimmt, das kann ich klarer machen, obwohl es sich im Grunde aus der Formulierung
“…sie nahmen aus seinen Ideen eine Auswahl mit deutlicher Tendenz vor” auch ergibt.
September 4th, 2006 at 15:31
stimmt schon. ich finde aber, in der kritischen neuen marxlektüre gibt es etwas zu sehr die tendenz, über marx’ deutliche fehler, vor allem die didaktischer (gerade kapital band I) oder strategisch-taktischer natur, zu wenig zu reden. das verwirrt dann, wenn man selbst halt diese fehler, die dann anderen angekreidet werden, bei marx dann doch findet. da wird zu viel entschuldigt, bzw zu positiv gelesen (“der meint das doch nicht so”)
September 5th, 2006 at 12:44
Er meinte halt _auch_ etwas anderes. Diese Reflexe, Marx ständig zu einem Allesblicker machen zu wollen, seine heutige Lektüre mit seinem Denken zu verwechseln, finde ich auch bezeichnend und regelmäßig nervtötend. – Anyway, das Buch soll sich an ein Publikum richten, das mit dieser Diskussion nicht unbedingt vertraut ist und da ist die Balance zwischen dem Schlachten linker Kühe und der Verbreitung ideologiekritischen Denkens ein bißchen schwieriger.
Daher vielen Dank für jeden Einwand, ich bastel ja noch dran!
September 5th, 2006 at 15:36
ja, ein balanceakt. viel erfolg noch dabei!