Das Plausible ist das Unwahre?
July 31st, 2008In seiner konkret-Artikelserie zu Casting- und Realityshows liefert Georg Seeßlen ein weiteres Puzzlestück zum Problem der Plausibilität, das ich anderswo schon angerissen habe. Ich vermutete, daß Fiktives oft realer erscheint als die Realität oder ihre möglichst wahrheitsgetreue Wiedergabe: “Das ist nicht weiter verwunderlich, da eine Fiktion bereits einmal von einem Verstand vollständig vorgekaut wurde, sozusagen eine gekochte Speise darstellt, während der Bericht auch mit nichtempirischen Beimengungen dennoch zuviel enthält, das eben nicht komponiert ist, nicht ins Schema paßt.”
Bei Birgit Schmidt fand ich “Konstrukte, die so absurd anmuteten, daß sie von Teilen der Bevölkerung gerade deshalb geglaubt wurden.”
Seeßlen sieht Fiktives und Reales bzw. Dokumentarisches nun im Fernsehen einander näherrücken:
>>Was da aufgelöst wird, sind unter anderem die logischen Unterscheidungen zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktiven. Ursprünglich hat der kulturkritische Diskurs nur geargwöhnt, die Grenzen zwischen beidem könnten in der Fernsehsprache verschwimmen, das eine mit dem anderen durchsetzt, das eine mit dem anderen maskiert werden, so daß der Empfänger letzten Endes als vom Sender “Betrogener” dasäße. Was aber von den Konsumenten tatsächlich gefordert wurde, war ein neues Sowohl-als-auch beziehungsweise Weder-noch, genauer: die Erzeugung realer Affekte aus einer fiktionalisierten Welt.
Ursprünglich waren die deutschen Gerichtsserien à la “Richterin Barbara Salesch” tatsächlich Dokumentationen realer Gerichtsszenen. Das war dem Publikum zu langweilig (um nicht zu sagen: zu “unrealistisch”). Erst als man dazu überging, die Fälle vor der “echten” Richterin zu spielen, (…) erwies sich das Format als erfolgreich.<< Hier möchte ich festhalten, daß Seeßlen den Mechanismus bestätigt, der dramatisch Inszeniertes für realistischer hält als die langweilige Wirklichkeit. Er unternimmt auch einen Erklärungsversuch, indem er diesem Mechanismus die Möglichkeit zuschreibt, das Dramatische ins je eigene Leben einfließen zu lassen: >>Man könnte argwöhnen, das Publikum wünsche eine Art “Anfiktionalisierung” seiner Realität oder ein “Anrealisieren” seiner Fiktionen.<< Wird für die Brutalität einer konstruierten Welt, die man nicht mitkonstruiert, entschädigt, wer zumindest an deren Konstruktion durch Zuschauen, Verbreiten der Kunde und vor allem durch Anpassung ans Gesehene teilhaben kann? (Ist dann sowas hier der Gegenentwurf dazu: "Hier hab ich meinen Teil von unserer Erde, der kann so werden, wie ich selber bin"?) Unterdessen werden diejenigen, die hier quasi live Geschichte schreiben, also in Echtzeit eine dramtische Erzählung des Geschehens erzeugen, offenbar mit wachsenden Befugnissen ausgestattet. Seeßlen zitiert eine Entscheidung des Landgerichts Bielefeld: "Das Produktionsteam habe nicht wochenlang auf eine Zuspitzung der Konfliktsituation zwischen Tochter und Mutter warten können", und folgert: >>Das heißt: Das Eingreifen in ein Leben zwecks Erzeugung von Konflikten ist juristisch gedeckt, und wenn Menschen vor der Kamera nicht schnell genug zusammenbrechen oder einander attackieren, dürfen Regisseure und Produzenten mit Mitteln nachhelfen, die außerhalb dieser Situation verboten sind.<< Solange das Geschehen nur aus der Entfernung manipuliert wurde, also als Geschichte, konnte über die Akteure oft einfach hinweggegangen werden, nicht zuletzt weil sie meist schon tot waren. Nun müssen rechtliche Konstrukte her, die das Geschichteschreiben bei laufender Kamera ermöglichen. Nach einer Betrachtung einschlägiger Fälle, in denen die Zustimmung der Betroffenen zu sämtlichen Zumutungen letztlich durch ihre Teilnahme an der Sendung einfach vorausgesetzt wurde, resümiert Seeßlen: >>…die Ersetzung des geschriebenen Vertrags durch “schlüssiges Verhalten” darf durchaus als soziale Metapher gewertet werden.<< Das läßt Böses ahnen. Diese Zauberformel könnte prima dazu geeignet sein, manche Grauzone im Arbeitsrecht oder auch bei Vergewaltigungsfällen tief schwarz einzufärben. Tröt! Verpassen Sie nicht die nächste Folge von Georg Seeßlens ergreifender Doku-Serie über den finsteren Alltag vor und hinter den Kulissen: "Angriff der Affekt-Vampire" - in der nächsten Ausgabe von 'konkret'! Tröt! (Ist wirklich unter der Überschrift angekündigt. - Neben Seeßlens Text fand ich im aktuellen Heft vor allem die Artikel über aktuelle Seepiraterie und die Fifa lesenswert.)
July 31st, 2008 at 18:30
Ich fand auch den zweiten Teil über die (Überflüssigkeit der) SPD ganz lesenswert.
Jetzt muss eigentlich nur noch Blatter das Castingkonzept für die FIFA entdecken, DANN wirds richtig lustig. 😉
July 31st, 2008 at 20:35
Seeßlen schreibt für die konkret? *lach*
August 1st, 2008 at 10:23
muss von mir noch gelesen werden, aber das halte ich schonmal für gewagt, wird doch behauptet tv-bilder könnten “real” sein, also reales spiegeln, ohne dass “fiktives” beigemischt wird.
ich denke doch, dass es etwas komplizierter ist. auswahl des materials, wer kommt wann wie und wo zu wort, kameraeinstellung etc – angesichts dessen relativ naiv von “dokumentarischem”, dass da angeblich ohne fiction auskommt, ignoriert nen ganzen schwall an theoretischer auseinandersetzung zum thema.
August 8th, 2008 at 17:17
Also hier wird erst mal die Zauberformel entzaubert: “schlüssiges Verhalten”
Nennt Georg Seeßlen den Namen Katharina Saalfrank? Das Geschäft dieser Dame kann man wohl noch am ehesten als Seelenporno beschreiben. Wenn signifikant viele Darsteller nachher über die Folgen enttäuscht sind braucht es vielleicht Sicherheitshinweise wie bei den Zigaretten: Die Teilnahme an diesem Programm verursacht seelische Störungen.