Lenin, 1917 und die Demokratie
September 2nd, 2008Das Posting zur Gegenstandpunkt-Kritik an Michael Heinrich hat eine Huhn-oder-Ei-Diskussion über die Frage ausgelöst, ob der Staat die Warenform oder die Warenform den Staat hervorbringt. Dazu möchte ich in Anlehnung an Wilson sozusagen die diskordische Crispy-Chicken-Position vorschlagen: Einige marxistische Modelle beschreiben den Staat als notwendige Voraussetzung für die Warenform, einige marxistische Modelle beschreiben die Warenform als notwendige Voraussetzung für den Staat. Die Modelle scheinen verschiedene Geltungsbereiche zu haben, so daß ihre Erklärungskraft an jedem Einzelfall neu zu erproben ist.
Auch die andere zentrale Streitfrage, die mehr mit dem Posting zu tun hatte, ob und inwiefern nämlich die Arbeiter als Eigentümer anzusehen seien, ließe sich analog formulieren. Möglicherweise würde das die Diskussion weniger wie Schulhofbattle aussehen und vor allem funktionieren lassen, es ginge also vielleicht weniger um Kompensation und Selbstbehauptung als um die Klärung der diskutierten Fragen.
Ein Modell, das die Arbeiter als Eigentümer beschreibt und ihre Einbindung in den Wohlfahrtsstaat zum bestimmenden Charakteristikum unserer Epoche erhebt, entwickelt Peter Klein in seinem Buch “Die Illusion von 1917. Die alte Arbeiterbewegung als Entwicklungshelferin der modernen Demokratie” von 1992. Auf dieses recht wichtige Material für meinen – leider aufgeschobenen – 1917-Vortrag will ich im folgenden näher eingehen, weil es einige mißverständliche Punkte des anderen Postings bezüglich des “Eintretens in die bürgerliche Herrschaft” aufklären dürfte.
Im wesentlichen zeigt Klein, wie bei Lenin und seinen Anhängern Demokratie und Kapitalismus im Widerspruch stehen, weil Kapitalismus personalisiert über die Zahl der Kapitalisten betrachtet wird. Dem hält Klein entgegen, daß mit zunehmender Verrechtlichung jeder zum Warenbesitzer wird, wovon die Demokratie den geradezu zwangsläufigen politischen Ausdruck darstellt. Lenin hat dennoch diesen Prozeß der allgemeinen Verrechtlichung enorm vorangetrieben, indem er entgegen seiner marxistischen Auffassungen dahin wirkte, die “Massen” in den Kapitalismus einzubeziehen.
Die Milchmädchenrechnung
Aber der Reihe nach. Klein beginnt mit Treffendem übers Privateigentum:
>>Privateigentum hat man nicht, wie man eine lange Nase hat. Privateigentum ist praktisches Handeln, das auf Gegenseitigkeit beziehungsweise Allseitigkeit beruht. Privateigentum ist wechselseitiges Anerkennen, ist wechselseitiges Einverständnis mit dem jeweils gegenüberstehenden Willen.<< Mit Fortgang der Produktivkraftentwicklung greift auch diese Rechtsform weiter aus, allerdings: >>Indem unterschiedslos alle Menschen zu Privateigentümern werden, zu mit freiem und gleichem Willen ausgestatteten Rechtspersonen also, werden sie selbstverständlich nicht allesamt zu “Kapitalisten”, sehr wohl aber zu Bestandteilen des kapitalistischen Funktionsmechanismus (…) Der Prozeß der Verrechtlichung, der den Arbeiter zum vollberechtigten Privateigentümer seiner Arbeitskraft machte, konnte ja nur als gesamtgesellschaftlicher ablaufen, gleichmäßig in allen gesellschaftlichen Bereichen bzw. diese einander angleichend. Er beseitigte selbstverständlich auch den Typus des individuellen Kapitalisten, der alle unternehmerischen Entscheidungen selber trifft, der die Verwaltung und Organisation seines Betriebes unter seinem persönlichen Kommando hat.<< (Insofern ist das Wal-Mart-Beispiel aus der GSP-Heinrich-Diskussion schief, da das Unternehmen wohl mehr Menschen als jeder Pharao kommandiert, dieses Unternehmen aber nicht der Unternehmer ist.)
Für Klein stand das Festhalten an der Personalisierung dem Verständnis des entfalteten, also verrechtlichten und demokratisierten Kapitalismus im Weg – sowohl bei Engels:
>>Engels aber behandelt diesen Formalismus, diese Kupongschneider so, als seien sie, die soeben jede persönliche Verbindung und Verantwortung bezüglich des Produktionsprozesses verloren haben, gerade aufgrund dieses Verlustes um so größere Schurken. Er sucht also persönlich verantwortliche Ausbeuter in eben jener Entwicklung, die den kapitalistischen Verwertungsprozeß soeben jeder persönlichen Färbung zu entkleiden beginnt.<< - als auch bei Lenin, bei dem die personalisierte Perspektive zudem seine Stellung zur Demokratie bestimmt: >>Das Privateigentum, das sind ganz unmittelbar die “Privateigentümer”, Menschen, die mit der Eigenschaft ausgestattet sind, Privateigentümer von Produktionsmitteln zu “sein”. Um sich volkstümlich auszudrücken, setzt Lenin sogar noch eine Trivialität drauf und spricht (…) gleich von den “Reichen”. Auf dieser Grundlage ergibt sich dann wie von selbst die Argumentationsfigur: Reiche gibt es wenige, Arme gibt es viele, also widerspricht die Demokratie “logisch” dem Kapitalismus, d.h. dem Interesse der “Reichen”, denn sie gibt Arm und Reich die gleiche Stimme und verschafft so den Armen ein Übergewicht über die Reichen, das diese fürchten müssen. (…)
In der Epoche des Konkurrenzkapitalismus war die Zahl der Kapitalisten groß, der durchschnittliche Kapitalist, oft nur ein Werkstattinhaber mit drei oder vier Lohnarbeitern, klein, also waren die Chancen der Demokratie angesichts dieser “homogenen Sozialstruktur” gut, besser jedenfalls als im Monopolkapitalismus, wo die jetzt bedeutend verminderte Zahl von dafür um so größer und mächtiger gewordenen Kapitalisten, die Demokratie, die ja die politische Herrschaft der Mehrheit bedeutet, um so mehr hassen und fürchten muß.<< Klein spricht hier von einer "Milchmädchenrechnung", die sowohl Lenin wie auch seine Widersacher aufmachten, welche "die differentia specifica des Kapitalismus außer acht läßt, nämlich, daß dieses Produktionsverhältnis, indem es sich herstellt, die Individuen gerade nicht mehr persönlich aufeinander bezieht, sondern sich ihnen gegenüber zu einer in der Wertform und in der Rechtsform waltenden Sache verselbständigt, deren immer unpersönlicher werdender Zwang (Sachzwang) ihnen gemäß der Ideologie, unter der sie ihn selbst produzieren, als ihr ‘Fortschritt in der Freiheit’ vorkommt.” Der immer mehr Lebensbereiche bestimmende Eindruck, daß niemand zuständig ist, trifft ebenso immer mehr zu; der verinnerlichte Zwang hört weitgehend auf, als solcher zu erscheinen; vielmehr wirkt der greifbar scheinende Einklang mit diesem Zwang wie die ersehnte Freiheit.
Die radikale bürgerliche Revolution und Aufklärung in der Praxis
Das politische Handeln Lenins und seiner Parteigänger sieht Klein daher als konsequent demokratisch motiviert. Er führt Bernstein an, der in der Sozialdemokratie “das Vollzugsorgan des ‘theoretischen Liberalismus'” von 1793 erblickte. Und er verweist auf die Wurzeln in der bürgerlichen Aufklärung:
>>War man schon ökonomisch und kulturell nicht sehr weit über die Leibeigenschaft herausgekommen, so wollte man sich doch in der Leidenschaft für die Ideen der Aufklärung von niemandem übertreffen lassen. Denn das macht ja die historische Wende der Aufklärung aus, daß sie den “Willen Gottes” durch denjenigen des “Menschen” ersetzt hat…<< Der "freie Willen" des bürgerlichen Rechts - "wie er an der freiwilligen Tauschbeziehung zwischen gleichberechtigten Warenbesitzern sein Paradigma hat" - wurde im "Leninschen Voluntarismus" auf "gesellschaftliche Institutionen und geschichtliche Ereignisse" übertragen und wurde zu "dem Glauben, daß man die Verhältnisse 'machen' kann" und "daß dieser Wille auch noch hinausreichen könnte über die Vergesellschaftungsform, der er selbst angehört." >>Man hoffte somit, innerhalb und vermittels der politischen Form dem niedrigen Niveau der Vergesellschaftung der menschlichen Arbeit, das eben in diesem Glauben an die Form der Politik erscheint, ein Schnippchen schlagen und an die Stelle realer Vergesellschaftung die Proklamation derselben setzen zu können.<< In der Praxis bedeutete das, mit der allgemeinen Volksbewaffnung auch die demokratische Milchmädchenrechnung praktisch zu machen: "Weil das Volk bewaffnet ist, deshalb besitzt es auch die Kompetenz, sich unmittelbar selbst, ohne die Dazwischenkunft eines unmittelbaren Staatsapparats zu 'beherrschen' (...) Der Begriff der 'Volksherrschaft', der hier Anwendung findet, weiß offenbar nichts von jener Herrschaft, die die Wertform der gesellschaftlichen Arbeit selbst ausübt." Genauso gut hätte man, so Klein, auch erklären können: "Gib dem Arbeiter ein Gewehr in die Hand, und er hört auf, ein Arbeiter zu sein. Proklamiere die Macht der Arbeiterklasse, und sie besitzt die Macht über die historischen Voraussetzungen, die die Lohnarbeit hervorgetrieben haben." Auch an der Wurzel des Streits zwischen Menschewiki und Bolschewiki sieht Klein den gleichen Denkfehler im Werk, der nur zu verschiedenen Konsequenzen führt: >>Eine bürgerliche Revolution, so schließen die Menschewiki messerscharf, gehört in die Hände von Menschen, die sich soziologisch einwandfrei als Bürger auszuweisen vermögen. Mit der gleichen Logik ausgestattet, sagen die Bolschewiki, daß eine Revolution, in welcher soziologisch zweifelsfrei als Proletarier auszumachende Menschen den Kerntrupp der Bewegung bilden und die größte Leidenschaft und den größten Opfermut an den Tag legen, daß eine solche Revolution natürlich keine bürgerliche mehr sein könne, sondern nur eine proletarische, d.h. sozialistische genannt werden dürfe. Wie ersichtlich sind beide Argumentationsfiguren weit davon entfernt, die “Bourgeoisie” als im Wert und im Recht waltendes, den soziologischen Kategorien gegenüber sich als “Sachzwang” verselbständigendes Produktionsverhältnis zu begreifen.<< In den Maßnahmen des neuen Staates sieht Klein nichts als moderne bürgerliche Herrschaft, wenn Lenin in "Staat und Revolution" etwa schreibt: "Rechnungsführung und Kontrolle - das ist das wichtigste, was zum 'Ingangsetzen', zum richtigen Funktionieren der kommunistischen Gesellschaft in ihrer ersten Phase erforderlich ist." Jeder "des Lesens und Schreibens Kundige" sei dazu imstande. "Es handelt sich nur darum, daß [sie] alle gleichermaßen arbeiten, das Maß der Arbeit richtig einhalten und gleichermaßen Lohn bekommen." Auf dem IX. Parteitag 1920 heißt es, der Arbeitszwang würde "während des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus den höchsten Grad an Intensität erreichen". Der III. Gesamtrussische Gewerkschaftskongreß im selben Jahr erklärt gar, "Zwang, Reglementierung und Militarisierung der Arbeit" seien "nicht nur Notstandsmaßnahmen", vielmehr besitze "der Arbeiterstaat normalerweise das Recht", "jeden Bürger zu jeder beliebigen Arbeitsleistung an jedem beliebigen Ort zu nötigen." Trotzki verbittet sich Kritik am "Einzelleistungsprinzip" mit dem Satz: "Wer sich davor fürchtet, offenbart damit unbewußt ein tiefes inneres Mißtrauen gegen die Sowjetmacht." (Hier weist Klein - ganz im Sinne Willy Huhns - darauf hin, daß der Unterschied zu Stalin lediglich darin bestanden habe, daß dieser den Satz ohne das Wort "unbewußt" formuliert hätte.) Klein schließt, daß der "proletarische Staat" in "genau die gleiche Position" einrückt, "die vormals die Kapitalistenklasse innehatte, er wird zum gesellschaftlichen 'Generalunternehmer'" und an anderer Stelle: "Was Lenin für einen höchst unvollkommenen Sozialismus halten mag, das ist in Wirklichkeit ein höchst unvollkommener und entwicklungsbedürftiger Kapitalismus." Inwiefern Klein hier zu folgerichtig von bürgerlich-demokratischer Praxis zum Kapitalismus fortschreitet, inwiefern also Hannes Gießlers Einwände über den durchaus verschiedenen Charakter der sowjetischen Ökonomie (Auf welchem Markt werden die Waren denn verkauft?) ihn hier treffen, sollte vielleicht noch mal extra diskutiert werden.
Der große Realpolitiker Lenin als Geburtshelfer des Vorscheins
Wo immer Klein sich den konkreten Ereignissen des Jahres 1917 zuwendet, folgt er ganz unkritisch den leninistischen Darstellungen (wenngleich er zur Illustration auch andere Quellen heranzieht.) In den Auseinandersetzungen um Anreden und Titel nach dem Februar 1917 sieht er einen Beleg für den herrschenden Untertanengeist. Er zitiert Lenins Seufzer “Wir haben nicht einmal das Analphabetentum liquidiert” und erklärt die zwei Drittel Analphabeten zum “herausragendste[n] Merkmal, an dem sich die Zurückgebliebenheit des Landes, der geringe Grad der Entfaltung der Produktivkräfte, der geringe Grad der Vergesellschaftung der Produktion, ablesen läßt.”
Hier wie an anderen Stellen übernimmt Klein die Leninsche Perspektive, die im Zustand Rußlands bei seiner Machtübernahme nur das schlechte Erbe des Zarismus und in keinem Punkt Resultate der Revolution selbst sehen will. In dieses Bild paßt nicht, daß die Masse derer, die keine Analphabeten mehr waren, das Lesen und Schreiben erst in den letzten zwei Jahrzehnten vorm Revolutionsjahr gelernt hatten, daß der Zarismus den Revolutionären also neben aller Rückständigkeit auch bereits eine moderne Dynamik vererbt hatte. Der Sachzwang, sich gegen die ungebildete Masse gewaltsam durchsetzen zu müssen, erscheint schwächer, wenn man weiß, daß der Bildungsgrad gerade und schon vor der Revolution stark im Zunehmen begriffen war.
In Kleins Darstellung fallen aber die meisten Elemente, die sich nicht eindeutig dem alten oder dem neuen Regime zuordnen lassen, unter den Tisch. Viel umstrittener als bei Klein ist auch die Frage, welchen Anteil die Bolschewiki mit ihrer das ganze Jahr hindurch wirkenden Massenpropaganda am “Zusammenbruch des Transportwesens, dem Niedergang der Industrieproduktion und der um sich greifenden Hungersnot” hatten, von denen sie sich, in Lenins Worten, “zu einer unvergleichlich radikaleren Zerschlagung der alten Verhältnisse” gezwungen sahen “als wir ursprünglich beabsichtigt hatten.”
Klein ist jedoch von der “Notwendigkeit” der eingeleiteten Zwangsmaßnahmen – Kommissare, Akkordlohn usw. – “überzeugt” und stellt, nachdem er ein ganzes Buch lang den Nachweis zu bringen versucht hat, daß wir es beim Oktober 1917 mit einer radikal-bürgerlichen Revolution mit lediglich sozialistischem Anstrich zu tun haben, Lenin insgesamt in freundlichstes Licht: “Es ist dieser nüchterne Blick für die Tatsachen (dem man später mit der Metapher von der ‘amerikanischen Sachlichkeit’ glaubte die Ehre erweisen zu müssen), der Lenins Modernität ausmacht. (…) Im Gegensatz dazu lassen seine ‘linken’ Kritiker ständig die Neigung erkennen, das ‘Prinzip’ höher zu stellen als die schnöde Wirklichkeit. Damit wird ihre Haltung passiv.” Es ist von Lenins “Genie” die Rede, seiner Fähigkeit, sich in die Massen einzufühlen usw. Alles möglicherweise zutreffende Beschreibungen eines erfolgreichen bürgerlichen Politikers, doch wieso die Parteilichkeit?
Das hängt offenbar damit zusammen, daß Klein meint, Lenin habe mehr gegen als mit der “Theorie” das seiner Ansicht nach “Notwendige” durchgesetzt, das mache seine Größe aus, und er hätte allen Kommunisten nach ihm damit mehr geholfen, als es das Haften an der Theorie vermocht hätte:
>>Lenin zweifelt zurecht daran, ob “die nächste kommende Generation, die weiter entwickelt sein wird”, bereits “den völligen Übergang zum Sozialismus” – zum Sozialismus wohlgemerkt! – vollziehen kann.<< Soviel nochmal zum abgeschmackten Vorwurf, Aufkleber und Plattencover seien abgeschmackt... Aber: von Lenins Kommunismus, wie er in "Staat und Revolution" sich zeigt, weiß Klein: >>…daß dieser “Kommunismus” nichts weiter ist als die voll entfaltete bürgerliche Gesellschaft, gekennzeichnet dadurch, daß die “Bourgeoisie” ihre persönliche (soziologische) Gestalt abstreift, und an ihrer Stelle der stumme, im Geld und in der Rechtsform unpersönliche, sachliche Gestalt annehmende Zwang der Verwertungslogik tritt. Mit einem kleinen Schuß spekulativer Tollkühnheit, wenn man sich nämlich auf die überhistorische Ebene einer “Geschichte überhaupt” begibt, die schon immer das “Ziel” des Kommunismus angepeilt habe, kann man sogar dahin gelangen, dieses Vergesellschaftungsniveau die “erste Phase des Kommunismus” zu nennen.<< Lenin ist also für Klein deswegen groß und bedeutend, weil er sich von der Theorie nicht blenden ließ und mit dem sicheren Instinkt des genialen Politikers dem Gang des Weltgeistes folgte, nämlich den Kapitalismus aus seiner Frühform in seine heute vorherrschende verrechtlichte Form schubste.
Heutiger Wohlfahrtsstaat als Vorstufe zum Kommunismus
Lenin hat also den Weg zum Kommunismus doch abgekürzt, indem er der Entfaltung des Kapitalismus massiven Vorschub leistete. Zu Lenins Zeiten sei “die kapitalistische Produktionsweise noch zu gering entfaltet” gewesen, “um empirisches Material für eine immanente, an der Krise der Wertform selbst ansetzende Kapitalismuskritik liefern zu können”, die Bevölkerung widmete, eingepfercht “innerhalb der Zwänge der Armut bzw. des kapitalistischen Privateigentums”, “nahezu ihre gesamte Energie den Angelegenheiten der unmittelbaren Reproduktion”. Heute hingegen sei die politische Freiheit allgemein, “beseitigt aber für sich weder den Hunger, noch enthebt sie der Mühen der Fabrikarbeit”.
In der Zwischenzeit ist aber – von Lenin gewissermaßen beschleunigt – die Vergesellschaftung ein ganzes Stück vorangekommen:
>>Solange der Vergesellschaftungszusammenhang stofflich noch auf schwachen Beinen steht, muß offensichtlich der Staat, und zwar auf seine (plebiszitäre, populistische) Weise, Zuständigkeiten übernehmen oder sich anmaßen, die bei der “persönlichen Interessiertheit” (Lenin) oftmals besser aufgehoben wären. Freilich ist diese “persönliche Interessiertheit” keine Naturtatsache. Die Beweglichkeit des modernen Markt-Individuums, das seinen “persönlichen Vorteil” zu kalkulieren und zu nutzen versteht, mußte sich historisch erst einmal herausbilden. (…)
Mit dem Erfolg der kapitalistischen Vergesellschaftung werden ihre ideologischen Pioniere aber überflüssig. Das Bedürfnis nach Kontinuität und Berechenbarkeit der politischen Rahmenbedingungen stellt sich ein. Die ideologisch motivierte “Einmischung” des Staates in die “Wirtschaft” wird zunehmend als solche empfunden. Es ist dies ein Zeichen dafür, daß das äußerliche Antreiben und “Mobilisieren der Massen” seine raison d’être verloren hat. (…)
Zum anderen verliert die Masse offenbar selbst den Gefallen daran, als solche gerufen zu werden. Von der Wertform der Vergesellschaftung erfaßt, entwickeln die Menschen jene “persönliche Interessiertheit”, die es auch dem Arbeiter ermöglicht, sich wie ein Individuum vorzukommen. Mit der Ausdehnung des privaten Konsums hält der sich entfaltende Kapitalismus offensichtlich wirksamere Formen der Affirmation bereit als jene altertümlichen der Orden und des Heldenruhms, mit denen sich der Populismus alten Stils behelfen mußte.<< Für Klein ist der demokratische Gemeinwohl-Staat in Anlehnung an Otto Bauers Wort von der "Diktatur der Idee des Proletariats" so etwas wie die "Diktatur der Idee des Volkes": >>Es ist dies eine Diktatur, die natürlich um so vollkommener herrscht, je selbstverständlicher ihre ideologischen Prämissen, Freiheit und Gleichheit, im Alltagsdenken und in der Alltagspraxis der Warenbesitzer verankert sind. Alles, was dieser Staat tut, tut er im Namen und für “seine” Bevölkerung, auf deren von den Meinungsforschungsinstituten sorgfältig beobachtete Loyalität er den größten Wert legt.<< Klein resümiert, daß "in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts" "offensichtlich" "kein anderer als ein 'politischer Sozialismus' möglich" war. Unklar bleibt, warum er notwendig gewesen sein soll, warum er "nur unter der ideologischen Form des 'Sozialismus' vollzogen werden" konnte und warum "die Akteure" "ihre gespenstisch-großartige Tragödie in Gewändern" aufführten, "die einer erst noch als Abstraktion vorhandenen Zukunft entstammten". Klein scheint nicht einzufallen, daß es dem kommunistischen Projekt trotz aller günstigen Voraussetzungen vielleicht deshalb so schlecht geht, weil das Einholen ohne Überholen unter sozialistisch-kommunistischer Überschrift vollzogen wurde und sich nun jede kommunistische Praxis darauf beziehen lassen muß. (Diese Perspektive ist womöglich auch dem Zeitpunkt der Entstehung des Buches geschuldet.) In Bezug auf die heutige Praxis spricht sich Klein für eine "Kritik des Arbeiterwillens" aus und für eine nebulöse "wertkritische Basis für den revolutionären Willen", die 1917ff. allein vermocht hätte, "den revolutionären Willen daran zu hindern, eine staatliche Institution zu werden". Um aus dem Verwertungsmechanismus "herausfallen" zu können, ist es zudem erforderlich, daß die Individuen "auch aus der Rechtsform 'aussteigen'" und damit aufhören, ihre "Identität abstrakt zu definieren, als jenes leere Warenbesitzer-Ich, daß sich nur über die äußeren Attribute seiner Verwertbarkeit wahrnehmen und selbst akzeptieren kann. Mit einem Wort, sie müssen damit aufhören, Demokraten zu sein." Von solchen markigen Ansagen hat Klein noch mehr auf Lager: >>Für unsere kommunistischen Zwecke kommt es bei dem heute erreichten Vergesellschaftungsniveau nicht mehr darauf an, wer im politischen Himmel herrscht, sondern darauf, ihn zum Einsturz zu bringen. Die “linke Opposition” von 1921 verrät ihre historische Unwahrheit eben darin, daß sie selber nur in politischer Form repräsentieren konnte, was, wäre es an der Zeit gewesen, die Form der Politik selbst überflüssig und obsolet gemacht haben würde.<< Daraus ist leider nicht viel mehr abzulesen, als daß es heute ebenfalls nicht "an der Zeit" ist, was daran liegen kann, daß der Wohlfahrtsstaat zwar eine denkbare günstige Voraussetzung darstellt, in ihm aber auch gegenläufige Prozesse wirken; oder daran, daß dieser Wohlfahrtsstaat bröckelt und in Teilen der Welt sich nie entfaltet hat; oder daran, daß unter Kommunismus allgemein das verstanden wird, was im Laufe des vergangenen Jahrhunderts unter dieser Überschrift an Praxis zu besichtigen war; oder daran, daß diejenigen, die wichtige theoretische Teile des Problems in der Hand halten, sich untereinander wie die letzten Idioten an Rechthaberei zu übertreffen suchen; oder an einer Kombination mehrerer dieser Faktoren.
Wer die genauen Seitenzahlen der Zitate oder überhaupt mehr vom Buch wissen will, kann sich meine exzerpierten Stellen in diesem PDF anschauen.
(Als Bonus hier noch eine Fußnote aus dem Buch: “Der moralisch weniger penetrante Teil dieser Linken, der, seine entsprechenden Bedenken zurückstellend, via SPD in das ‘harte politische Geschäft’ eingestiegen ist, tat dies mit der Maßgabe, daß man ‘dem Kapital’ wenn schon keine Niederlage, so doch moralische Skrupel beibringen müsse. Wieder andere, die die Moral selbst als den ‘Betrug’ entdeckt haben (so etwa die jüngst verblichene ‘Marxistische Gruppe’), verhelfen ihr dadurch zu ihrem Recht, daß sie mit um so größerem Missionarseifer an das allerunmittelbarste Lohninteresse der Proleten appelieren. Jeder Hinweis auf die Vermitteltheit dieses unmittelbaren Interesses, versetzt sie in Panik, weil er zu gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen hinführt, deren vermeintlich nur im Namen der Moral mögliche Beantwortung das heilige Lohninteresse ‘relativieren’ könnte.”)
September 2nd, 2008 at 10:23
Ist der König von Arabien eigentlich ein Kapitalist?
Wenn man dem Begriff vom Eigentum her definiert, dann ja, wenn man ihn von der Ideologie her definiert, dann nein. Seltsamer Begriff.
September 2nd, 2008 at 19:43
Wo nimmt Peter Klein eigentlich seine recht weit gehende Behauptung her,
“andere, die die Moral selbst als den ‘Betrug’ entdeckt haben (so etwa die jüngst verblichene ‘Marxistische Gruppe’), verhelfen ihr dadurch zu ihrem Recht, daß sie mit um so größerem Missionarseifer an das allerunmittelbarste Lohninteresse der Proleten appelieren. Jeder Hinweis auf die Vermitteltheit dieses unmittelbaren Interesses, versetzt sie in Panik, weil er zu gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen hinführt, deren vermeintlich nur im Namen der Moral mögliche Beantwortung das heilige Lohninteresse ‘relativieren’ könnte.”?
In diesem Vorwurf erkenne ich eher die MLPD als die MG/den GegenStandpunkt. Auch wenn der GSP nicht bei jeder Gelegenheit mit der Parole “Nieder mit dem Lohnsystem!” agitiert.
September 3rd, 2008 at 05:41
“…oder daran, daß diejenigen, die wichtige theoretische Teile des Problems in der Hand halten, sich untereinander wie die letzten Idioten an Rechthaberei zu übertreffen suchen…”
Applaus!
September 4th, 2008 at 13:46
“sich untereinander wie die letzten Idioten an Rechthaberei zu übertreffen suchen…”
Du und die KP China? 😉
January 30th, 2009 at 17:12
[…] Herrschaft in viel größerem Maß als verinnerlicht denn als aufgezwungen an (vgl. dazu mein Posting über Peter Kleins Buch zu 1917), doch ist verinnerlichte Herrschaft eben keine Herrschaftsfreiheit. Wenn sich alle selbst und […]