Tokio Love Hotel am Ende und Anfang der Welt
October 15th, 2010Der Vergleich: zweimal in den Grundzügen den gleichen Tag erleben, einmal ohne und einmal mit Acid. Die wiederholten Elemente: das Gebiet zwischen Hirschgarten und Heidemühle, als Lektüre “Der kommende Aufstand“, schließlich der Film “Enter The Void” im Moviemento.
Der kommende Aufstand ist eine kommunistische Anleitung zum Verlust der Illusionen über diese Welt und zum Versuch, ihren Zusammenbruch durch die Bildung von Kommunen zur Abschaffung der Warenherrschaft auszunutzen. Die weniger gute Übersetzung gibt es bei Nautilus, die bessere kostenlos hier. In der ganzen Welt bekannt gemacht wurde das Buch von Glenn Beck, dessen Warnung davor die wohl beste denkbare Werbung gewesen sein dürfte.
Enter The Void, oberflächlich gesehen die tragische Geschichte des Gelegenheitsdealers Oscar und seiner Schwester Linda, zeigt den Traum, den ein nicht-religiöser Psychedeliker in Tokio vom Tibetanischen Totenbuch träumt, einer Anleitung für den Zustand der Seele zwischen Tod und Wiedergeburt (Oscar: “Do you believe in Reincarnation?” – Linda: “I don’t have the mental state of a five-year old.”), die Leary und Alpert als Vorlage für eine Anleitung für einen LSD-Trip benutzten, aus dem wiederum einige Zeilen den Song “Tomorrow never knows” von den Beatles inspirierten. In der Deutung des Films wollen die Seelen ihr Leben nicht verlassen und existieren daher in einem körperlosen und psychedelischen Zustand bis zu ihrer Reinkarnation.
Oscar: “You mean, we’re stuck in this world forever? There’s nothing better out there?”
Der kommende Aufstand: “Aus welcher Sicht man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ohne Ausweg. Das ist nicht die geringste ihrer Tugenden. Denjenigen, die unbedingt hoffen möchten, raubt sie jeden Halt. Diejenigen, die vorgeben Lösungen zu haben, werden sofort entkräftet. Es ist bekannt, dass alles nur noch schlimmer werden kann. »Die Zukunft hat keine Zukunft mehr« ist die Weisheit jener Epoche, die unter dem Anschein einer extremen Normalität auf der Bewusstseinsebene der ersten Punks angelangt ist.”
Der Film als Provokation oder als kontrovers oder als bla bla bla. Ein Rezensent, dem diese Leere “zu kühl, zu emotionslos, zu berechnend” daherkommt. Ein anderer, dem es schwerfällt, “to sympathize with a guy who, while high as kite, agreed to deliver a large quantity of drugs to a person with a known grudge against him and gets himself shot by yelling at the police “Go away, I have a gun!” (Clearly a Darwin Award nominee.)” Adorno: “Banausen sind solche, deren Verhältnis zu Kunstwerken davon beherrscht wird, ob und in welchem Maß sie sich etwa anstelle der Personen setzen können, die da vorkommen.” Regisseur Gaspar Noé: “Tokyo was eventually chosen both because it could provide the colourful environments required for the film’s hallucinogenic aspects, and because of Japan’s repressive drug laws, which would add to the drama and explain the intensity of the main character’s fear of the police.” Der kommende Aufstand: “Trend der Epoche ist die Durchmischung von fader Musik mit Teleskopschlagstöcken und Zuckerwatte. Was sie an polizeilicher Überwachung bedarf, diese Bezauberung!”
Oscar dealt, seine Schwester strippt.
Oscar: “Everyone who has a real job is a slave.”
Der kommende Aufstand: “In den Unternehmen teilt sich die Arbeit immer offensichtlicher in hochqualifizierte Arbeitsplätze in Forschung, Entwicklung, Kontrolle, Koordination und Kommunikation, im Zusammenhang mit dem Einbringen des notwendigen Wissens in die neuen kybernetisierten Produktionsprozesse, und in entqualifizierte Arbeitsplätze zur Instandhaltung und Überwachung dieser Prozesse. Erstere sind von geringer Zahl. Sehr gut bezahlt und dadurch dermaßen begehrt, dass die Minderheit, die sie vereinnahmt, nicht auf die Idee käme, sich auch nur ein Krümelchen davon entgehen zu lassen. Ihre Arbeit und sie verschmelzen in einer angsterfüllten Umklammerung effektiv zu Einem. Manager, Wissenschaftler, Lobbyisten, Forscher, Programmierer, Entwickler, Berater und Ingenieure hören im wahrsten Sinne nie auf zu arbeiten. Selbst ihre Fickbeziehungen sollen ihre Produktivität steigern.”
Der Film beginnt mit einer alle schwatzenden Seen-it-all-Zuschauer zum Schweigen bringenden Sturzflut an Einblendungen und Titeln, nach wenigen Dialogzeilen gefolgt von der Visualisierung eines DMT-Trips (Thorsten Fleisch am Werk). Zitternde Zellen und Gewebe, leuchtende, bunte organische Muster, Kabel, Kerne, Pulsation, Netze von Plastiktentakeln. Im Verlauf des dreistündigen Films ist immer wieder ein Loch in der Welt, durch das sie sich selbst zu entschlüpfen versucht. Eine Schlange, die sich in den eigenen Arsch kriecht. Die Kamera steuert gnadenlos immer wieder die hellsten und drastischsten Bildelemente an, fliegt in sie hinein und wird dann von minutenlangem grellem Geflacker überflutet, “the clear light of reality”, in dem die betrachtenden Augen selbst Muster zu bilden beginnen.
Darauf ist niemand vorbereitet. Während des Geflackers lichten sich die Reihen. Kein Epilepsie-Hinweis vorher, aber auch kein: “Der Film kann psychedelische Effekte auslösen.” Hatten sie Angst, daß dann keiner kommt? In Berlin? Oder tun wir wieder mal alle so, als wäre nichts? Dabei waren alle gewarnt: “Irréversible“, in Noés sein Bankraub, mit dem er “Enter the Void” finanzierte, kam “extremely low-frequency sound during the opening twenty to thirty minutes” zum Einsatz, “to create a state of disorientation and unease in the audience.”
Beim ersten Besuch, nüchtern, sitze ich in der ersten Reihe, wo ich die Füße hochlegen kann und so wenig wie möglich von den anderen im Zuschauerraum mitbekomme. Der DMT-Trip sieht wirklich wie einer aus, kann man sich mal im Kino anschauen, nur fühlt er sich nicht so an. Die metaphorischen und realen Achterbahnfahrten, die dem nervösen Blick eines berauschten Lebenden und dann dem freien und gebundenen Blick eines Geistes folgende Kamera machen mich schwindlig, ich muß manchmal wegschauen. Erst am Ende der Vorstellung sehe ich, daß fast die Hälfte der anderen Zuschauer gegangen ist.
Beim zweiten Besuch sitze ich in der zweiten Reihe und verfolge schon während des Films, wie die anderen nach und nach den Raum verlassen. Auf Acid fühlt sich der DMT-Trip auch so an wie einer, und die Idee, eine 3D-Brille hinzuziehen, wird hinfällig. Mindestens 3. Gerade das Geflacker ist anregend und erfrischend, was mein Nervensystem da noch hineinrechnet, überraschend: von Sequenz zu Sequenz verdichtet sich darin das Leben, das später wieder auf die Welt kommen will, aber ein überschießendes Element enthalten wird.
Wir sehen während des Films einen befreundeten japanischen Designer eine Version von Tokio auf Acid entwerfen, worin sich ein besonders buntes und leuchtendes “Love Hotel” befindet. Als es dann quasi-real auftaucht, sehen wir als erstes, wie Frauen oral und mit Spielzeug verwöhnt werden, dann ist allerlei Sex zu sehen, bei dem es zwischen den Körpern glüht und strahlt, Berührungen, die Funken schlagen. (Seltsamerweise machen die Kerle aber praktisch kein Geräusch…) Im Totenbuch: “3. The sidpa bardo or “bardo of rebirth”, which features karmically impelled hallucinations which eventually result in rebirth. (Typically imagery of men and women passionately entwined.)” Only when conceived at the Love Hotel will Oscar be reincarnated. As his sister’s son.
Der kommende Aufstand spricht von “Kommunen, die sich – anders als es Kollektive im Allgemeinen tun – nicht über ein Drinnen und ein Draußen definieren, sondern über die Dichte der Beziehungen in ihrem Inneren. Kneipen, Druckereien, Sporthallen, Brachflächen, Antiquariate, Dächer von Wohnblocks, unangemeldete Märkte, Dönerläden und Garagen können ihrer offiziellen Bestimmung einfach entkommen, wenn sich dort ausreichend Komplizenschaften finden.”
Der Laden, in dem Oscar erschossen wird, heißt “The Void”, die Leere. In der Leere irrt er nach seinem Tod umher, begreift die Verbundenheit des Elends, die seine liebevolle Verbundenheit zu seiner Schwester zerstört hat, bis er einen Raum findet, der von dem angefüllt ist, was er auf seinen Trips erlebt hat. Er kommt als neuer Mensch auf die Welt, nachdem er an diesem Ort gezeugt wird. There must be some kinda way outta here/but the only way out is through.
Der kommende Aufstand: “Es geht darum, kämpfen zu können, Schlösser zu knacken, Knochenbrüche ebenso zu heilen wie eine Angina, einen Piratensender zu bauen, Volksküchen einzurichten, genau zu zielen, aber auch darum, zerstreutes Wissen zu sammeln und eine Landwirtschaft des Krieges zu schaffen, die Biologie des Plankton und die Zusammensetzung des Bodens zu verstehen, das Zusammenwirken der Pflanzen zu studieren und dadurch die verlorene Intuition, alle Formen der Nutzung wiederzuentdecken, alle möglichen Bindungen an unsere unmittelbare Umgebung, und die Grenzen, über die hinaus wir sie aufbrauchen würden; und dies ab heute, für die Zeit, in der wir mehr als einen symbolischen Teil unserer Ernährung und Pflege aus ihr beschaffen müssen.”
Direkt danach: Yma Sumac hören im Esch. Währenddessen außerdem: beim Beobachten von Hunden und Hundehaltern über Herrschaft und Unterwerfung nachgedacht. Seither: Vorbilder, Inspirationen und related films zu Enter the Void schauen: Lady in the Lake, The Inauguration of the Pleasure Dome, Irréversible…
October 16th, 2010 at 02:40
Ähhm ja, sollte wohl keine rezension werden, ach egal…
Wollte nur mal meine interpretation einwerfen.
“Void” hab ich mehr als die Lücke verstanden.
Die Lücke die klaffte als Sie ihnren Bruder verliert, die Lücke die man in sich selbst schafft wenn man Drogen nimmt, durch die die ganzen bunten, aber auch dunklen Geister, in die im Grunde reinen Seelen, eindringen.
Die Lücke, die jeder sucht, um Anerkennung durch Besonderes oder besonders sein, zu bekommen.
Die Lücke in deiner Moral das Kapital zu deinem Vorteil nutzt.
Die Lücke in der das Leben für einen Sinn macht.
Weil Leere macht für mich bei der Fülle an Eindrücken im Film, irgendwie keinen Sinn.
“Besetze die Lücke” – “Enter The Void”
Leer sind die die noch nicht einmal die Geduld haben sich solch ein Meisterwerk des Filmes zuEnde anzuschauen. Diese öberflächligen Banausen!
Danke für deine Gedanken zum Film :-]
October 16th, 2010 at 08:32
Aber wäre die Lücke nicht eher ‘the gap’?
October 16th, 2010 at 11:14
Also ich streng da immer mal http://www.leo.org an, selbst wenn ich schon zu glauben mag was ein Wort heißt.
Is ja wie im Deutschen, da gibt es ja auch meist mehrere Wörter für das gleiche oder gleiche Worte für verschiedenes.
ne Gap ist sicherlich auch mal ne Lücke, aber meistens auch ein Abstand.
October 16th, 2010 at 15:09
Irgendwas ist anders.
October 16th, 2010 at 15:40
@Ken DasNetzInDir – Vielleicht sollte es einen Darwin Award dafür geben, die Lücke die sich im Zusammenhang mit “Drogen” auftut in der Innenwelt verorten zu wollen – sowas kann doch nur zu einem schlechten Trip führen. Tatsächlich klafft sie in der Außenwelt, und zwar als das Legitimitätsdefizit der Staatsgewalt, die unter der Prohibition immer nur eine weitere Form organisierter (schießwütiger) Kriminalität ist, welche es darauf anlegt in Deiner Tasche eine Lücke anstelle der “Drogen” zu hinterlassen. Davor sinnvoll zu warnen ist allerdings gerade so schwierig wie vor Stavromula Beta zu warnen…
October 16th, 2010 at 17:40
Die Lücke klafft sicherlich in beiden Welten, was aber noch nicht beweisst das sich die AußenlückenWelt nicht schneller Regenerieren würde, wenn die die dies erkannt haben zuerst in in ihrer Inneren Welt wieder natürliche Reinheit schaffen(soweit es in dieser verschmutzten Welt noch möglich ist), um auf diesem Wege Effizientere Kritik an der Außenwelt auslösen zu können.
…und den Bonus des natürlicheren Klaren Blickes ins eigene zu vollführen!
October 17th, 2010 at 02:34
nun, die lücke und leere ist nicht weit von der fuge entfernt –
von der verschiebung und differance: dem out of joint (shakespeare in marx gespenster)
October 17th, 2010 at 14:45
Vorsicht Kinder die zuviel mit Acid spielen könnten ihr entschwörungstheoretisches, antideutsches Weltbild verlieren.
http://www.youtube.com/watch?v=tNoT5ugvcBM
October 18th, 2010 at 15:53
@Ken DasNetzInDir – Die Psychedeliker haben die Prohibition nur verschieden interpretiert, aber es kommt darauf an sie zu beenden. Sobald der Staatsschmutz weggeputzt ist hindert Dich niemand mehr daran zwischen all den Bildern die Du Dir davon machst auch Deinen seelischen Idealzustand wiederzufinden. Damit den selbstbestimmten Umgang mit den Mitteln zu diesem Zweck zu erlernen läßt sich allerdings schon jetzt anfangen.
October 19th, 2010 at 13:21
@Ken DasNetzInDIr @Donauwelle – Echt? Natürliche Reinheit? Seelischer Idealzustand? Eeecht? ROFLMAO.
October 21st, 2010 at 20:50
@Xenu’s Pasta – *gähn*
December 2nd, 2010 at 21:37
[…] “Der kommende Aufstand” December 2nd, 2010 Pünktlich zu meinem ersten Vortrag über “Der kommende Aufstand” (morgen/Freitag in Frankfurt/Main vor der (IVI-Geburtstagssause) hat nach Glenn Beck und der […]
February 25th, 2015 at 08:49
Wirklich interersant seine alten eigenen Kommentare und die Diskussion nach, ein paar Jahren nochmal wiedzufinden und natürlich auch den guten Beitrag unter dem diese stehen.
Interessanterweise, hab ich genau auch gestern eine thematisch passend Doku zum “kommenden Aufstand gefunden”
Schaut einfach mal in meinen neuesten Beitrag, da ist sie zu finden.
http://dasnetzindir.blogspot.de/2015/02/ein-weiterer-baustein-im.html