Vollversammler, Voodoo, Materialismus

October 17th, 2011

Die gesamte Freitagnacht bis weit in den Tag hinein unmittelbar konfrontiert mit sozialer Desintegration, erschüttert (wenn auch nicht überrascht) davon, wie besonders und selten Orte und Zusammenhänge geworden sind, wo Menschen sich nicht egal sind und sich auch als beschädigt zeigen können, erschien mir die zwischen Alex und Regierungsviertel am Samstag zelebrierte “echte” Demokratie, die Verlängerung der Prozedur ins Absurde, die Entscheidung einer sich korrekt und vernehmbar artikulierenden Mehrheit auf der Grundlage der augenblicklichen Kurzschlußwahrnehmung von mengenkompatibel vereinfachten, geglätteten und gerufenen Äußerungen als schrecklich marktförmig und warenförmig, als Herrschaftsübung der gerade aufgrund ihres besinnungslosen Einverstandenseins nett, ja beinahe harmlos wirkenden kollektiv Starken.

Inhaltlich wurde sogar noch hinter den bereits ordentlich bescheuerten Slogan “Wir bezahlen nicht für eure Krise” von 2009 zurückgefallen, als es zumindest noch ein Konzept von Lohnarbeit und Klassenkampf gegeben zu haben schien. Die Banken zu beschuldigen wirkte auf der Wiese vorm Reichstag schon vergleichsweise weit gedacht, da die überwältigende Mehrzahl der Äußerungen sich auf die Börsen bzw. genauer auf ihr Personal bezogen: “Mit Geld spielt man nicht”, “Finanzjongleure an den Pranger”, “Spekulanten verpisst euch” oder auch so:


(photo by preflexion)

Sicher waren ein paar Grüppchen vertreten, die den Kapitalismus unter Einschluß der für eine Produktionsweise ja nicht eben nebensächlichen Produktionsverhältnisse kritisierten, und sicher waren andererseits auch diverse Truther und BüSo-Leute vor Ort, den Tenor bildeten jedoch die Aufforderung an die Politik oder den Staat, die Finanzmärkte zu regulieren, und für den Fall, daß die Regierung daran scheitern sollte, die wenig überzeugende Absichtserklärung, es dann selbst zu machen.

Die vielen taktischen Fehler, die Demoerfahrene gegen das Spektakel anführten (z.B. der kläglich an der Palastwache gescheiterte Versuch, wenigstens die Reichstagstreppe zu besetzen), sind aus Sicht der meisten Beteiligten gar keine Fehler gewesen, da doch das Ziel, sich einen Nachmittag lang als “wirkliche” Parlament im Wartestand, als Volksstaat-Relaunch fühlen und weiträumig auch verstanden wissen zu können (immer wieder laut und viel: “Wir sind das Volk!”), vollkommen erreicht worden zu sein scheint.

Vorhut läuft auf den Reichstag zu Absperrung vorm Reichstag ist offen hier: alles frei
Lauf zum Reichstag, ungenutzte Lücke, ungenutzte Strecke

(Benni Bärmann bei keimform.de über die Aktion in Frankfurt, wo andere für eine USA-Fahne und das Motto “Ihr seid doch nur neidisch” angegriffen wurden.)

Von der abendlichen Nachbereitung an verschiedenen Orten – auch im Kontext von ganz anderen Themen -, in der die Enttäuschung über den sichtbar gewordenen gegenwärtigen Stand der Selbstaufklärung der Menschheit die Erleichterung über die doch recht wenigen Anzeichen für eine antisemitische Radikalisierung und Formierung über den ohnehin beschissenen antisemitischen Normalzustand hinaus eher überwog, eilte ich zu Karl Marx Stadt, der Bei Roy zeitlos unerreicht dennoch nur die Einstimmung zur Dub-Hardcore-Noise-Voodoo-Maschinenbeschwörung von DEVILMAN bildete, die sich wiederum als unerwartet gute Vorbereitung auf den Sonntag herausstellen sollte.

Karl Marx Stadt @ Bei Roy 16/10/2011
Devilman beschwören die Geräte
Karl Marx Stadt und DEVILMAN beschwören die Geräte

(Zwischendurch irgendwann in der Ringbahn unterhalten sich ein paar Kerle, von denen einer das Vollversammler-Spektakel gutzufinden schien, und der andere ihm sagte: “Das war ein Festival, damit änderste gar nichts!”)

Weitere Nachbereitungen später und immer noch im selben Tag steckend erreichte ich schließlich am sonnigen Sonntagnachmittag den letzten Programmpunkt des Wochenendes: Johannes Paul Raethers “rituelle Indoktrination” im Rahmen von “Zeig Her, Führ Vor, Tausch Ein – Presence Is The Artist” im General Public. Als Protektorama, eine aktualisierte und materialistische Mischung aus Hexe und Voodoo-Houngan, sagte Raether ziemlich genau all das über Kapital und Geschichte, was tags zuvor nicht zu hören gewesen war und entwickelte Ansätze für einen “spirituellen Materialismus”, der die Geister und Kräfte allesamt in dieser Welt und keiner anderen verortet, als Gegenfluch zum “Aufstieg des spirituellen Kapitalismus”. Auf dem Weltheilungsmarkt herrsche ein harter Wettbewerb, Weltheilung sei kein “unique selling point” mehr, wo von Bono bis Google alle die Welt zu retten meinen.

Protektorama im Weltheilungswald worauf Protektorama lief
Protektorama im Weltheilungswald, Protektoramas Stiefel

Protektorama wanderte dann, unterstützt und beleuchtet von den Mobiltelefonen des Publikums (ich dachte an “This little light of mine”), durch die Geschichte von Fetisch und Freiheit, durch Leben, Ableben und Nachleben von Marx und Arbeiterbewegung (der Text der eigentlichen Indoktrination findet sich vollständig hier), um für die Gegenwart die materialistische Aneignung von Gegenflüchen aus spirituellen Anschauungen zu empfehlen: Voodoo als Präventivkriegsstrategie gegen die herrschenden abstrakten Prinzipien. Als Beispiel fungierte “possession”, was im Englischen sowohl Besessenheit wie auch Besitz heißen kann. Im Voodoo sei “possession” räumlich eingegrenzt, sozial eingerahmt und bewußt-absichtlich herbeigeführt; im Kapitalismus sei “possession” ewig, global und total.

Es müsse zu kollektiven Akten der Absurdität kommen, antiklimatisch und ohne Budenzauber, und so einer finde nun gerade hier statt: “the magic to make the irrational real and the unreal rational“. Nachdem Protektorama doch noch einen gut verfremdeten Taschenspielertrick für die Pointe eingesetzt hatte, ging ich mit dem Gedanken im Kopf, ob die Vollversammler vom Vortag wenigstens als kollektiver Akt der Absurdität durchgehen würden, und mit der Frage, warum neben Marx nicht auch Albert Hofmann als Kollege von Protektorama Erwähnung fand, endlich mal nach Hause. (Wenn auch nicht auf direktem Weg.)

P.S. Zu den automatischen Vorwürfen, ich würde automatische Vorwürfe gegen jedwede neue Protestbewegung absondern: Wenn ich was Scheiße finde, dann sag ich das, Punkt.

4 Responses to “Vollversammler, Voodoo, Materialismus”

  1. Benni Says:

    In Frankfurt wurde immerhin “Hoch die internationale Solidarität” statt “Wir sind das Volk” gerufen. Und was die in Frankfurt schon traditionelle Provo-Aktion mit der Fahne angeht: Die war auf jeden Fall noch deutlich sinnloser als der ganze Rest (wie immer: von beiden Seiten).

    Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass man sich als Alternativ-Parlament versteht. Und es gab durchaus nicht wenige, die meinten, man müsste sich jetzt eben selber organisieren, wenn der Kapitalismus das nicht mehr schafft und ähnlich protokommunistisches. Es gibt kaum etwas wertvolleres als Leute, die positive Erfahrung mit Selbstorganisation auch außerhalb linker Nischen machen.

    Hab mir vorgenommen nächsten Samstag irgendwie zu intervenieren vor allem gegen den Verschwörungsquatsch und die vielen Zinskritiker. Mitstreiter gerne gesehen.

  2. no Says:

    Nur so am Rande http://occupyreichstag.blogsport.de/2011/10/17/19-27-plenum-911/
    (Mit aufschlussreichen Kommentaren)

  3. Qaumaneq Says:

    Dort wo schon Erfahrungen mit den Platzbesetzungen gesammelt wurden hat die Grundsatzdebatte bereits begonnen: https://linksunten.indymedia.org/de/node/48876

  4. Bea Says:

    Manueller Trackback:

    Occupy – Eine Bewegung zwischen verkürzter Kapitalismuskritik und strukturellem Antisemitismus.

    http://bea.blogsport.de/2011/11/08/occupy-eine-bewegung-zwischen-verkuerzter-kapitalismuskritik-und-strukturellem-antisemitismus/

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