“Unite behind the science”, der Zusammenschluss hinter der Wissenschaft, war und ist strömungsübergreifend eine der wichtigsten Forderungen der Klimabewegung – das Beharren auf der prinzipiellen wissenschaftlichen Erklärbarkeit der Welt und auf der überwältigenden Evidenz für den menschengemachten Anteil an der rapiden globalen Klimaveränderung, das Zurückweisen aller Versuche derjenigen, die ihre Interessen in den relevanten Kapitalsektoren verfolgen, die wissenschaftlichen Erklärungen zu untergraben und ihre praktische Umsetzung zu hintertreiben.
Ganz ähnlich wie für den Klimaschutz gilt das auch für den Pandemieschutz, wenn auch weniger in Form einer großen Massenbewegung. In beiden Fällen ist jedoch die Tendenz zu beobachten, einerseits die Interessen hinter und innerhalb der Wissenschaft selbst auszublenden und andererseits einem Konzept von Wissenschaft zu folgen, in dem ihre Voraussetzungen, Widersprüche und Konflikte mindestens in den Hintergrund treten wenn nicht komplett verschwinden.
Das schlägt sich sowohl auf die Wahl der Mittel und Zielrichtung der politischen Kampagnen durch als auch auf die begleitende populäre Wissenschaftsvermittlung. Da Staat und Kapital zumindest teilweise auf der eigenen Seite zu stehen scheinen, werden grundsätzliche, klassenbasierte Strategien gegen sie vernachlässigt und es wird vieles von ihrer jeweiligen PR geteilt und weitergegeben, darunter die Neigung, ideologisch motivierte Auffassungen als Dummheit zu behandeln und die meisten Menschen zu unterschätzen, wissenschaftliche Inhalte entsprechend stark zu vereinfachen und zuzuspitzen, Erkenntnisprozesse auf ihre (vorläufigen) Resultate und wenige prominente Beteiligte runterzubrechen, oft in einer Weise, die von der jeweils bekämpften Propaganda kaum zu unterscheiden ist.
Der Wissenschaftshistoriker Clifford D. Conner hat hier mit seinem 2005 erschienenen Buch “A People’s History of Science: Miners, Midwives, and Low Mechanicks” eine riesige Bresche geschlagen, die bisher zu wenig Beachtung gefunden hat. Er trägt darin für verschiedene Zeiträume, Schauplätze und Wissensgebiete Material zusammen, das zeigt, wie viele Menschen im Laufe der Geschichte wissenschaftliche Entdeckungen und Erklärungsansätze aus praktischen Fragestellungen der Arbeits- und Alltagswelt beim Jagen und Sammeln, beim Ackerbau, in Seefahrt, Bergbau, Handwerk und Heilkunde, aus der direkten und ständigen Auseinandersetzung mit Natur, Körper, den Elementen und den gesellschaftlichen Widersprüchen entwickelten. Gleichzeitig verfolgt Conner, wie die Institutionalisierung von Wissenschaft nicht nur als Kollateraleffekt, sondern ganz absichtlich zur Herrschaftssicherung diese Art von “people’s science” abgewertet und zurückgedrängt und damit viele Erkenntnisse teilweise lange verschleppt hat.
Zum Beispiel wurden zentrale technische Grundlagen der Industrialisierung nicht nur abseits der Universitäten, sondern im Widerspruch zu den dort vorherrschenden Erklärungsmodellen geschaffen, die erst in der Folge nach und nach angepasst wurden. Auch entstand in den Jahrzehnten vor Darwins berühmten Veröffentlichungen bereits ein Konzept von natürlicher Evolution, von dem in der heutigen Vermittlung praktisch nur der leise Spott über Lamarck und seine Widerlegung durch Darwin übriggeblieben sind. Anfänge von Umweltwissenschaften finden sich im engen Zusammenspiel mit der Französischen Revolution und prallen wie andere im Kontext egalitärer Bewegungen entstehende Konzepte einer verbundenen, kooperativen Natur (im deutschsprachigen Raum ist etwa der Mitbegründer des Bundes der Kommunisten Wilhelm Weitling ein Beispiel hierfür) am Dogma der Akademien ab, die den analytischen ‘esprit systématique’ gegen den sozialrevolutionären ‘esprit de système’ ausspielen. Immer wieder wird in der Folge die Durchsetzung der Kapitalherrschaft von der Setzung einer hierarchischen Objektivität begleitet, so wird Darwin zur Begründung für allmähliche soziale Revolution, schließlich zur Rechtfertigung für Konterrevolution gegen sprunghafte “Entartung”.
Ich bin vorsichtig mit diesem Buch, weil es mir viel zu sehr in den Kram passt, viele meiner eigenen Überlegungen unterfüttert und mir die Grundrichtung nicht nur einleuchtet, sondern politisch sehr nahe ist. Wegen der geringen Aufmerksamkeit für dieses Buch (und ähnliche Ansätze) habe ich bisher wenig Hilfe dabei gefunden, die Materialien und Beispiele abzuklopfen und nicht in die potentielle Falle zu tappen, nun theoretische Wissenschaft und Spezialisierung quasi im Gegenzug abzuwerten. Denn ohne Zweifel ist es sinnvoll, wenn sich Einzelne zur Reflexion zurückziehen können und es spezialisierte Forschungsbereiche gibt – diese Reflexion und diese Forschungsbedingungen sollten nur allen offenstehen, die Zugänge sollten proaktiv nivelliert werden, und es sollte immer klar sein, dass all diese Reflexion und Spezialisierung auf der Arbeit von so vielen anderen aufsetzt.
Spätestens wenn es im Buch um die Entstehung von Geologie und Paläontologie aus dem Bergbau geht und auch nicht einfach aus der gelehrten Betrachtung von Gruben und Schächten, sondern aus der Vorarbeit der Bergleute selbst, mit Schwerpunkten in Sachsen und im Harz, habe ich als begeisterter Waldgänger mit großer Faszination für Hinweise auf Arbeit und Leben im Wald ernsthafte Probleme mit meiner Parteilichkeit.
Aber auch im weiteren Sinn hatte und habe ich ein gebrochenes Verhältnis zur Wissenschaft: ich hatte zwar immer zahlreiche Berührung mit dem akademischen Betrieb, gehörte aber nie wirklich dazu; mein familiärer und sozialer Hintergrund liegt ähnlich widersprüchlich zwischen Walzwerk, POS und Uni; ich komme aus einem sozialistischen Land, in dem einerseits die historischen Kämpfe um die Wissenschaft Thema waren und auf wissenschaftliche Allgemeinbildung großer Wert gelegt wurde, in dem es andererseits aber immer diesen halben Klassenkompromiss der strukturell bürgerlichen Parteiherrschaft mit dem Wissenschaftsbürgertum gab; mein öffentliches Wirken zielt stark auf die Vermittlung zwischen Uni und Nicht-Uni, auf die Ermunterung zum Wissensaustausch zwischen den Sphären, auf das Brechtsche “Lob des Lernens”, auf die Auflösung der bürgerlichen Distinktionen bei den Arbeitskräften im akademischen Betrieb; für diese Priorisierungen habe ich immer wieder einen hohen persönlichen Preis bezahlen müssen.
Im Laufe der Zeit bestand ein immer größerer Teil dieses Wirkens daraus, wissenschaftliche Erklärungen zu erweitern und zu ergänzen, zu vertiefen und zu systematisieren, die Blindstellen in der Wissenschaft zu erhellen, ideologisch motivierte Begrenzungen und Verdrehungen sowie ganz allgemein die Unterordnung unter die Interessen von Staat und Kapital anzugreifen, das Interesse der Arbeitskräfte und einer von ihnen getragenen gesellschaftlichen Umwälzung an Wissenschaft herauszustreichen, Ansätze und Modelle zusammenzufassen und zusammenzuführen (wie Conner so eindrücklich in Erinnerung ruft, stehe ich damit ganz in der Tradition egalitärer Wissenschaft).
Das habe ich am längsten mit Ideologie (“Entschwörungstheorie”) und den überall verstreut vorliegenden Konzepten und Forschungsergebnissen zum Rausch getan (“Leben im Rausch”), ähnlich habe ich es für die Lust zumindest begonnen (“Lust, Rausch und Zweifel”) und für die evolutionäre und historische Anthropologie versucht (“Die Hüftbewegung”). Im geschichtswissenschaftlichen Bereich habe ich mich auf verschiedene m.E. besonders relevante Abschnitte konzentriert, darunter vor allem die revolutionären Auf- und Umbrüche hierzulande um 1500 und um 1900 (auch um den um 1990), dabei versucht, durch große Quellenvielfalt so viel wie möglich der ideologischen Erzählungen herauszurechnen und die dahinter/darunter verborgene soziale Wirklichkeit so gut wie möglich freizulegen – wie in der Einleitung zur “Entschwörungstheorie” die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was die meisten Menschen die meiste Zeit über tun.
Fortlaufend unternehme ich eine verdichtete Zusammenschau dessen, was ich weiß, und dessen, was ich mir vorstellen kann, um über weitere Untersuchung und Tätigkeit zu entscheiden. Und in der gleichen Weise möchte ich dazu anstiften, sich über das eigene Wissen und dessen Herkunft Rechenschaft abzulegen und sich die Welt so vollständig wie möglich zu erklären, zur Spekulation anzuregen um Richtungen möglicher Forschung und Überprüfung zu gewinnen und damit mögliche Veränderungen von Arbeit, Leben, des ganzen Horizonts.
Aus Sicht der stark akademisierten Linken, die sich an eine Parteilichkeit für den Wissenschaftsbetrieb und den Staat (und weniger eingestanden für als kleinere Übel schöngequatschte Kapitalfraktionen) gegen den “Mob” gewöhnt hat, stellt sich das Problem nun so dar, dass Wissenschaft nur schwer zu kritisieren ist, ohne den überall blühenden reaktionären, wissenschaftsfeindlichen Diskursen Tür und Tor zu öffnen. Dagegen halte ich, dass eine konsequente Klassenposition dieses Problem vom Kopf auf die Füße stellen kann, die herrschaftlichen Interessen hinter Ideologie aufdecken, das Interesse der überwältigenden Mehrzahl der Menschen an wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Umsetzung begründen, den Klassenkonflikt innerhalb der Wissenschaft sichtbar machen, sich der innerakademischen Konkurrenz und der Polarisierung entlang rivalisierender Kapitalinteressen entziehen, allgemein dem Geniekult, dem Expertentum und der Konkurrenz die egalitäre Kooperation und Solidarität der Klasse entgegensetzen, klarmachen, wie Teile der vorherrschenden Wissenschaftsvermittlung selbst Tür und Tor für die Reaktion öffnet.
Conners historische Zusammenschau kann vielleicht dabei helfen, die Scheu vor dieser Auseinandersetzung zu verlieren und dazu ermutigen, bestehende Ansätze zur Arbeitskräfte-Organisierung an den Unis (unterbau, TVStud) und zur Einführung dort vernachlässigter Themen und Ansätze (Kritische Einführungswochen, Offene Uni) zu vertiefen und zu schärfen. Sie könnte es erleichtern, sich von liberalen Hegemoniekämpfen und Bekenntnispolitik zu lösen und stattdessen eigene Standpunkte aus der Formulierung von zulässigen Vereinfachungen und aus der Bildung von dynamischen Gegenidentitäten zu beziehen. Sie könnte die unter Linken verbreitete Distanz zu den Naturwissenschaften verringern helfen und allgemein zum Kampf gegen die herrschaftliche Unterwerfung der Wissenschaft und zur (Wieder-)Aneignung ihrer Ergebnisse anregen, die etwa in Fragen der Geschlechterpolitik, der menschlichen Evolution oder der Entstehungsgeschichte von Herrschaft von größtem Nutzen sein dürften.
Auch könnte die Lektüre dieses Buches den Blick dafür schärfen, dass reaktionäre Wendungen innerhalb der Linken bzw. Übertritte ins andere Lager nicht nur historisch auf spezifischen Aneignungen von Wissenschaft fußen (Darwinismus/Rassismus, wissenschaftliches Management wie im Taylorismus der Bolschewiki, dann Stalins “Taylorismus von unten”, generell die Fetischisierung von Theorie™, orthodoxer Zettelkasten-Marxismus wie bei Ebert, Verengung auf Psychoanalyse bis zur völligen Blindheit für die Bewusstseinsforschung). Auch wer heute nach rechts abbiegt, macht das oft auf der Grundlage einer “Wissenschaftskritik” – an Gender, Klima, Covid oder an der “etablierten Archäologie” – verbiegt sich erkenntnismethodische Ansätze wie Dialektik oder Kritische Theorie zu einseitiger Rechtfertigungsgymnastik, argumentiert für vermeintlich volkstümliche, handgreifliche “Wahrheit”, als hätten Arbeitskräfte keine Instrumente, keine Computer und könnten keine Wahrscheinlichkeiten ermitteln.
Schließlich könnten einige von Conners Beispielen eine wirksamere, radikalere Wissenschaftsvermittlung im Sinne von Polytechnik, Inklusion und Klassenkampf nahelegen – mehr Mut zur zulässigen Vereinfachung und zur Einladung in die Wissenschaft!
Kurz, nicht nur “Unite behind the science”, sondern auch und vor allem “Unite the science”: den Teil der Wissenschaft, den Staat und Kapital für ihre Zwecke vereinnahmt und monopolisiert haben, aus seinem goldenen Käfig befreien, und mit dem Teil vereinen, der systematisch marginalisiert und ausgehungert wird. Daran wirke ich auch weiterhin gerne nach Kräften mit.