Probleme mit dem Grundrechts-Jubel
March 4th, 2008Okay, möglicherweise entgehen mir bei der Lektüre der gefeierten BVG-Entscheidung, in der ein “Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme” festgeschrieben wurde, einige Feinheiten; möglicherweise ist mir der juristische Kontext nicht ausreichend klar.
Deshalb noch mal die Frage: Wird dieses neue Grundrecht nicht sofort bei Verkündung drastisch eingeschränkt, wenn in Punkt 2 und 3 definiert wird, unter welchen Bedingungen es dennoch verletzt werden darf? Und sind diese Bedingungen mit “Anhaltspunkten” für eine “Gefahr” für “Leib, Leben und Freiheit der Person” nicht ganz schön weit gefaßt? Und ist nicht vor allem diese Einschränkungsformel ganz schönes Gummi:
>>Die Maßnahme kann schon dann gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr für das überragend wichtige Rechtsgut hinweisen.<< Verstehe ich das also falsch, wenn ich im Applaus vor allem eine verständliche Siegesfreude der Aktivisten, ansonsten vor allem aber ein merkwürdig naives Vertrauen auf den Schutz "Unbescholtener" zu erkennen meine? Diesbezüglich teile ich die Einwände der Jungen Linken zum Thema, auf die ich ja mich auch in meinem “Stasi 0.5 beta-Vortrag” bereits bezogen habe:
>>Sie stellen sich Privatsphäre als etwas vorstaatliches vor, dass der Staat zu schützen und zu respektieren habe, in das er aber nicht eingreifen dürfe. Vor der Kriminalität soll er aber dann bitte doch schützen, woran sich zeigt, dass die VerfasserInnen des Aufrufs Kriminalität ebenfalls als etwas quasi vorstaatliches voraussetzen. Aber: Kriminalität kann halt alles und nichts sein. Was Kriminalität ist, ist eine politische Entscheidung und somit eine Frage der Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Irgendwann wirst Du kriminalisiert, weil Du Dich Verschlüsselungstechnologien bedienst, die der Staat illegalisiert hat (wie in anderen Ländern bereits geschehen).<< Vielleicht kann mir das mal jemand erklären.
March 5th, 2008 at 10:13
ich verstehe auch nicht ganz, warum alle so jubeln. und wenn alle jubeln, ist immer irgendwas faul. die einschränkungen ähneln denen von P129 (“staat gefährdet”) und wir wissen doch, dass sich im zweifelsfalle immer ein richter finden lässt.
March 5th, 2008 at 11:03
ich verstehe die frage noch nicht ganz: zum einen finden sich auch bei den grundrechten im GG häufig einschränkende formulierungen, die darauf hinweisen, dass das recht aufgrund von gesetzten eingeschränkt werden kann bzw. dass es grenzen hat, wo rechte anderer verletzt werden. beispiel art. 2 (allg. persönlickeitsrecht).
zum anderen dürfte es wohl klar sein, dass das bverfg urteil das thema onlinedurchsung und vor allem kriminalität/krimalisierung jetzt nicht für alle zeit entpolitisiert hat.
was die richter angeht: wichtig erscheint mir (nach hören der chaosradiosendung zum thema), dass es nicht reicht, irgendein formular zu unterschreiben, sondern dass der richter eine stellungnahme schreiben muss und darin begründet werden muss, inwiefern diese einschränkungen zum tragen kommen.
March 5th, 2008 at 11:30
@mei: begründungen müssen auch für P129 geschrieben werden. was aber z.b. im vorfeld der g8 proteste zahlreiche hausdurchsuchungen nicht verhinderte. im nachhinein, nach prüfung, waren die trotzdem illegal.
March 5th, 2008 at 15:05
Also da ist von “bestimmten Tatsachen” und “bestimmten Personen” die Rede, aber de facto handelt das Dokument von unbestimmten Tatsachen und unbestimmten Personen. Der Karlsruher Wächterrat würde sich ja nie trauen “islamisch” da reinzuschreiben. Die Bestimmung des Ausnahmefalls erfolgt eben nicht gerichtlich, sondern wird dem Alltagsermessen überlassen. Für den einzelnen Bullen bedeutet das eine Blankoerlaubnis zur Ausnahmefallbestimmung, gesellschaftlich eine Ermächtigung der im Polizeibetrieb gepflegten subkulturellen Feindbilder, historisch die Einführung der Provokation als primärer Herrschaftsstrategie.
March 6th, 2008 at 14:24
@mei
Vielleicht liegt dein Verständnisproblem auf einer grundsätzlicheren Ebene. Die Frage geht wohl von der Vorannahme aus, dass es nicht immer einen Staat gab und auch nicht immer einen Staat geben wird.
March 6th, 2008 at 16:42
mir ist nicht entgangen, dass das posting zwei ganz verscheidene ebenen anspricht:
zu einen die grundsätzlich nach staat, gesellschaft und system. einfach ausgedrückt: wer hat die möglichkeit, zu bestimmen, wer kriminell ist? usw.
zum anderen fragt kulla aber ja nach “feinheiten” des urteils.
mir ist nicht ganz klar, wie das überhaupt zusammenzudenken ist. das war mein verständnisproblem. was wird von diesem bverfg urteil erwartet?
March 6th, 2008 at 18:53
Ich hab das so verstanden, dass genau das die Frage ist: Was wird sich von dem Urteil erwartet? Und ist das berechtigt oder nicht? Werden der Überwachung real Grenzen gesetzt, wird sie wirksam zurückgedrängt oder liefert die Entscheidung den legalen Rahmen für nunmehr grundrechtlich abgesicherte Durchsuchungen?
March 10th, 2008 at 16:47
Habe gehört, dass das Grundgesetz am 5.3.08 geändert wurde und dies erlauben soll, dass der EU-Vertrag ratifiziert werden könne…
Wer weiss mehr darüber ???
Gruss Martin Lauchenauer
March 10th, 2008 at 19:37
Grundrechte sind nie schrankenlos. Dies wär auch schwer möglich, müssen sie doch dauernd gegeneinander abgewogen werden. Ja, Verbrecher fangen steht nicht grad oben auf der Wunschliste hier, aber ist nichtsdestotrotz eben auch notwendig, wenn nur das Verbrechen widerlich genug ist.
Bei der oben gestellten Frage gebe ich folgendes zu bedenken: Nicht die Interpretation, die man beim ersten Lesen haben kann, ist hier von Belang. Viele der Begriffe im Urteil ist keine unbestimmten Rechtsbegriffe, sondern wohldefinierte, in Jahren im juristischen Schrifttum erörterte Sachverhalte, die genau definiert sind.
Es interessiert also nicht, ob Hinz und Kunz das verstehen, sondern wie hoch die Hürden faktisch gesetzt wurden. Und die suchen juristisch ihresgleichen in der Bundesrepublik.
Auch wenn es einem Dauernörgler wenig schmecken wird, hier haben alternde Männer weit in die Zukunft gegriffen und sind den technischen Gutachtern weitgehend gefolgt. Wenn man mal davon absieht, nur die Fallstricke zu finden, die im Urteil enthalten sein könnten, wird man vielleicht sehen, wie breit die Auswirkungen auch außerhalb der staatlichen Sphäre sei werden. Was hast du gedacht, daß sie den Ermittler auf die Finger klopfen und den Rechner tabuisieren?
Wohl kaum, das wäre auch kaum angemessen angesichts tausender Beschlagnahmen im Jahr. Aber daß nicht jeder Dorfpolizist jetzt mehr in allen Dateien schnüffeln kann, wenn man mal mit 5 Gramm Haschisch erwischt wird, ist wohl ein Fortschritt. Laß mal den Bundestrojaner beiseite und denk dir andere Bereiche, die ebenfalls von dem Urteil umfasst sind. Dann wird der Jubel klar, den aber wohl nicht alle gleich verstehen. Jeder Strafverteidiger und jeder Verfassungsjurist wußten es schon bei der Verkündigung: Das Urteil ist den Jubel wert.
Mit Hurra-Verfassungspatriotismus hat da wenig zu tun, es ist doch eher so, daß da in Karlsruhe die letzte Bastion sitzt. Allerdings nicht mehr lange in dieser Zusammensetzung.
March 11th, 2008 at 13:23
@M. – Das ist doch alles Untertanenmentalität. Aber etwas besseres habe ich vom
BVerfGdeutschen Wächterrat auch nicht erwartet.Aber verfassungspatriotisch ist das Abgefeiere tatsächlich nicht, da habt ihr recht, sondern einfach nur hilflos und defensiv. Ein konstruktiver Umgang mit dem Verfassungsfindungsprozeß würde Alternativen zum d´Estaing-Entwurf hervorbringen anstatt sich bloß an den Halbgöttern in Rot abzuarbeiten. Mehr Freiheit wagen heißt zuallererst weniger Untertanenmentalität wagen.
March 13th, 2008 at 12:07
[…] von Benni am März 13, 2008 Das in letzter Zeit ja zu unrecht so viel gelobte Bundesverfassungsgericht hat sich jetzt einen wirklichen Hammer geleistet. Zum […]
March 13th, 2008 at 12:11
@martin: http://www.tagesschau.de/inland/eureform2.html ?