Ungarn formiert sich gegen die Roma

March 30th, 2009

Vor reichlich zwei Wochen schrieb G. M. Tamás bei den Trots über die erschreckende Lage in Ungarn:

>>Hungary seems to be haunted both by the demons of its past and the ghosts of the ultra-capitalist present – and the two seem increasingly similar. (…) While an increasing number of people are in danger of starving and freezing, the vocal majority is clamouring for an end to social services. Uniformed fascist paramilitary battalions are marching through the poorest districts… (…) In opinion surveys, 82 percent are in favour of some restrictions on Roma rights such as territorial segregation (school segregation is a fact already), forcible adoption of Roma children, etc. (…) And who do you think are those, according to the right, who are timidly venturing to speak out against this war against the poor? You have guessed right. It is “the bloody Jews” again, that’s who.<< Nun wurde Tamás von der "jungen Welt" interviewt, die ihn vermutlich mag, weil er sein Engagement 1989 heute für einen Irrtum hält und zuletzt von ungarischen Liberalen für seine Kritik an Israels Militäreinsatz in Gaza gescholten wurde. Über diesen Vorfall weiß ich nichts Näheres, Tamás scheint aber kein Realsozialismus-Nostalgiker zu sein, sondern lehnt aus dem Entsetzen über die aktuelle Entwicklung in Ungarn den Kapitalismus, der diese Zustände hervorbringt und befördert, wieder entschieden ab:

>>Ich bin einer der Begründer der bürgerlichen Republik in Ungarn und bin nun mit den Resultaten konfrontiert. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Was ich jetzt politisch mache, ist eine Art Reparatur, eine Selbstkritik, denn es ist fundamental gescheitert. (…)

Es gibt etwa 800000 Menschen, zumeist Roma, die an der absoluten Armutsgrenze leben. Sie werden kriminalisiert, und Armut wird ethnisiert, denn man schuf eine Ideologie, der zufolge es legitim ist, diesen Ärmsten der Armen keine Sozialleistungen zu gewähren. Die sogenannten Mitte-Links-Parteien erklärten stets, daß sie antirassistisch und für Menschenrechte sind, aber sie waren es, die im Parlament die neuen Sozialgesetze mit entsprechenden Bestimmungen verabschiedet haben. Das Programm der Sozialistischen Partei trägt den Titel »Der Weg zu Arbeit«, der Untertitel lautet »Arbeit statt Sozialhilfe«, aber diese Gesetze bedeuten Knast statt Sozialhilfe. In Ungarn spricht man öffentlich von den »kriminellen Klassen« wie im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich. (…)

Von den Liberalen bis zu den Rechtsextremen werden eine »strenge Behandlung« der Armen, der »Faulenzer« und der »Kriminellen« gefordert. Es gibt eine massive Propaganda gegen die »Inaktiven« wie Rentner, Studenten, alleinerziehende Mütter usw. Wer nicht das Kapital bedient, gilt als überflüssig. Es gibt eine erschreckende Stimmung gegen ältere Leute. (…)

Es gibt keine linke Zeitung, keine linke Radiosendung, keine sichtbare linke Intelligenz. (…)

Wir haben offen faschistische Kräfte und eine Tageszeitung – die ehemals linke, aber von einem Milliardär aufgekaufte Magyar Hírlap – in der praktisch »Juda verrecke« zu lesen ist. Dort wurde ein Artikel eines ehemaligen konservativen Parteivorsitzenden veröffentlicht, der darin behauptete, das »Zigeunerproblem« – und die Weltkrise – seien von den Juden verursacht. Sie benutzten die Roma als Schlägertruppen und dazu, das ungarische Volkstum zu vernichten. (…)

Die Fahnen dieser Nazibewegung [der Pfeilkreuzler] wehen über Amtsgebäuden. So etwas entscheiden lokale Räte, Bürgermeister, es gab auch ein Gerichtsgebäude mit dieser Flagge. (…)

Als Magyar Hírlap forderte, »das Zigeunerproblem« zu lösen, erklärte Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, staatliche Einrichtungen sollten zukünftig diese Zeitung nicht mehr abonnieren. Daraufhin gab es Erklärungen z.B. von Gerichtspräsidenten, sie seien unabhängig, hätten bislang diese Zeitung nicht gehalten, wollten das aber nach dieser Erklärung tun.<<


Kein historisches Foto, sondern aus Budapest in diesem Jahr

Auch die Jungle World berichtet vom “Marsch auf Budapest“:

>>Gegen die »Zigeu­nerkriminalität«, die linksliberale »Judenregierung« und »das internationale Judentum« hetzen auch Vertreter rechtskonservativer Parteien wie der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) und der Fidesz (Bürgerliche Union). (…)

Auch der rechtsextremen Partei Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn) werden derzeit in den Umfragen gute Aussichten eingeräumt, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden und ins Europa-Parlament einzuziehen. Die Jobbik gründete im Herbst 2007 die paramilitärische Ungarische Garde, um den »geistig-moralischen und physischen Verfall des Ungarntums« zu bekämpfen und »die linksliberale Regierung zu beseitigen«. Auch sonst hält sich die rechtsextreme Partei mit Kampfansagen nicht zurück. Krisztina Morvai, eine Kandidatin bei der bevorstehenden Europawahl, empfahl den »liberal-bolschewistischen Zionisten« 2008 in einer Rede, sich schon einmal zu überlegen, »wohin sie fliehen und wo sie sich verstecken«.

Den Rücktritt des Premierministers sieht auch die Jobbik als eine »historische Chance« an. Die Partei will nun so lange den »Druck der Straße« erhöhen, bis vorgezogene Neuwahlen ausgerufen werden. Diese sollen mit der Europawahl am 7. Juni zusammengelegt werden. Der Parteivorsitzende Gabor Vona kündigte bereits an, seine Anhänger für die »Rettung des Landes« mobilisieren zu wollen. So knüpft die Jobbik an ihr bisheriges Vorgehen an: Den Krawallen am ungarischen Nationalfeiertag ging eine Parteiveranstaltung der Jobbik voraus, auf der sie ihren Europawahlkampf eröffnete. Unter den Anhängern und Mitgliedern der Partei, die im Anschluss versuchten, das Parlament zu stürmen, befand sich auch Krisztina Morvai.<<

5 Responses to “Ungarn formiert sich gegen die Roma”

  1. posiputt Says:

    graesslich
    und ich versteh das auch nicht

  2. classless Says:

    Wer vorhaben sollte, hier Rechtfertigungen für die Verfolgung von Roma zu posten, braucht es gar nicht zu versuchen – schalte ich nicht frei!

    Auch gleich wieder gehen können diejenigen, die meinen, mich wegen der Verlinkung des nationalbolschewistischen Drecksblatts “junge Welt” ankumpeln zu müssen.

  3. vert Says:

    es ist auch wirklich zum verzweifeln. spätestens seit der randale von 06 ist es völlig aus den ruder gelaufen
    um die mszp war es auch schon vorher geschehen. ironischerweise trat sie damals mit dem claim “új magyarország” (neues ungarn) an. die roma in ungarn wurden aber schon vor 89 versucht als “neu-ungarn” (újmagyarok”) national zu assimilieren. wie gut das wiederum funktioniert hat, kann man sich ja vorstellen.
    da scheint jobbik und magyar gárda nur die logische konsequenz zu sein in einer gesellschaft, die irgendwie halt und verstand verloren hat. (wenn man nur mal überlegt, was aus dem fidesz geworden ist)

    (und jetzt sag mir keiner, das könne man so nicht sagen. wir warten mal gemeinsam auf die nächsten wahlergebnisse. und dann habe ich verdammt gerne unrecht.)

  4. Cannabis Kommando Says:

    In Gesellschaften, welche die Wahrung der je eigenen Privilegien als obersten Wert schätzen, kann unter der Last der Krise der gesamte gesellschaftliche Konsens zusammenbrechen, und wird dann durch einen Drang zur Zwangsseßhaftigkeit subtituiert, in dessen Bann sich die enthemmten Zukunftsängste der Privilegienverlierer austoben können.

  5. classless Kulla » Blog Archive » Wahlen gegen Roma und Juden Says:

    […] Wahlen gegen Roma und Juden April 10th, 2010 Seit letztem Jahr häufen sich Nachrichten über die immer bedrohlichere Lage für Roma in Ungarn, jetzt droht bei der morgigen Wahl eine Zweidrittelmehrheit aus erklärten Antiziganisten und […]

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