Straight Edge & Rausch
June 7th, 2011In der aktuellen “Jungle World” sind verschiedene Texte zu Straight Edge zu lesen, was mich thematisch gerade begreiflicherweise recht stark interessiert.
Francis Klein beschreibt in seinem “Ausstieg aus dem Ausstieg”, wie auf das mehr oder weniger ernstgemeinte “Kill everyone with a beer in his hand” von Slapshot das “Militant Edge” à la A Chorus of Disapproval folgte: “Auf die Anhänger solcher Bands wirkte das derart inspirierend, dass sie hauptsächlich in den USA dazu neigten, auf Konzerten Biertrinker zu verprügeln.” (FSU gingen – wie in “Boston Beatdown” zu sehen – u.a. auch direkt auf Straßendealer los.) Straight-Edge-Pionier Marc Nickel stellt in “Außenseiter unter Außenseitern” wiederum klar: “Der alte Straight-Edge-Gedanke war es, keine Abhängigkeiten zu haben, egal ob von Alkohol, Drogen oder Sex, also gegen Sexismus zu sein, dagegen, dass eine Frau nur als Sexobjekt gesehen wird. Es ging um Gleichheit, aber nicht darum, dass ich jemanden hauen sollte, der trinkt.”
José Björk faßt in “Abstinenz plus Politik” zusammen:
>>Drogenfreiheit wird als individueller und symbolischer Akt des Widerstands begriffen, als Ausdruck des Unwillens, »äußeren Kräften zu erlauben, dein Leben zu kontrollieren«, wie es im »Antifa-Straight-Edge-Manifest« von 2001 voller Pathos heißt. Und das gelte »nicht nur für Drogen, sondern auch für Konzerne, PolitikerInnen, Bullen, deine Eltern – was auch immer sich in den Weg eines selbstbestimmten Lebens stellt. Es ist ein Ausdruck dafür, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen.« Selbstbestimmung, das klingt sympathisch, suggeriert aber, dass der Rausch kein selbstgewählter Zustand sei. Rausch und Selbstbestimmung sind keine Gegensätze.<< Aber auch in diesem Fazit, dem ich grundsätzlich zustimmen würde, kommt der Rausch ganz warenförmig aus den Drogen, aus einem wie auch immer abgrenzbaren Teil der konsumierbaren Warenwelt. Dem hielt ich schon anderswo entgegen: Rausch ist ein Zustand, in den das Nervensystem eintreten kann, mit und ohne äußere Einwirkung; jeglicher Rausch - ob substanzgebunden oder nicht - kann via Setting (Gewöhnung, soziales Umfeld, Kompensation, Schmerzstillung usw.) Abhängigkeit erzeugen & das ist auch betriebswirtschaftlich am interessantesten (Abo) - eine Zwangsläufigkeit gibt es aber nicht, prinzipiell ist jeder Rausch ohne Abhängigkeit möglich. Da die Nützlichkeit des Rausches fürs Kapital ja gerade darin besteht, daß er prinzipiell zu jeder Tätigkeit sinnstiftend, effizienzsteigernd und emotional bindend hinzutreten kann, zu jeder produktiven Handlung wie zu jedem Akt des Konsums, ist wichtig zu begreifen, daß abhängig von den Umständen auch jedes Lebens- und Genußmittel zum Rauschmittel werden kann. Drogen ist also nicht gleich Rausch. Rausch heißt auch nicht unbedingt, daß etwas Schlimmes passiert. Viele landläufig als "Drogen" firmierende Substanzen finde ich zudem trotz der völlig unzureichenden Forschung auf dem Gebiet schon ganz gut gelungen und auch recht gut kontrollierbar. Sofern der Versuch des kontrollierten Gebrauchs denn auch unternommen wird...
June 7th, 2011 at 20:29
Drogen sind nich gleich Rausch.
Und Rausch heiszt nich gleich Drogen =)
June 7th, 2011 at 20:39
Was bedeutet heiszt?
June 7th, 2011 at 21:10
verschwörungstheoretisch ist doch auch interessant, dass subutex, diazepam, ritalin …. offiziell vermarktet werden
June 7th, 2011 at 22:13
Eine Frage dazu ist für mich, ob es die Abstinenz als mehr oder minder absolute Qualität – wie ja zumindest anscheinend suggeriert wird – überhaupt gibt bzw. geben kann. Letztlich definierst Du (gemeint bist nicht Du im speziellen sondern jemensch im allgemeinen) ein quantifizierbares (konsumierbares) Dingens wogegen Du Dich abgrenzt (Alk, Kiff, Fernsehen, “Konsum” im Sinne von Einkaufen, Informationskonsum etc. pp.). Wenn Du es schaffst, über Zeitraum X weniger von Dingens zu konsumieren als vorher, ist das “gut”. Das nochmal zu steigern ist dann (Achtung für alle die aufpassen: das hier ist der fragwürdige Schritt in meiner These) “besser”, was dann selbst wieder nen Kick geben kann. Ich habe auf jeden Fall schon Leute getroffen, die waren ganz berauscht davon, wie nichtkapitalistisch sie waren.
Ne interessante Nebenfrage ist IMHO auch, ob wir (gesellschaftlich) mit dem Abstinenzbegriff nicht mehr oder weniger ungewollt unsere “abendländisch-christlichen Wurzeln” wieder neu aufwärmen und Straight Edge sich damit als Reformbewegung des Calvinismus wiederfindet. Uh oh.
June 7th, 2011 at 23:27
@ Xenu’s Pasta
Straight Edge ist offensichtlich anschlußfähig an religiöse und reaktionäre Abstinenzkonzepte und wie diese vermag es, Menschen in einen Entzugsrausch zu treiben sowie eine schillernde Vielfalt von Ersatzräuschen auf den Plan zu rufen, unter denen die moderne Massenveranstaltung sicherlich einer der schrecklichsten werden kann. Ich habe das “Dialektik der Ausnüchterung” genannt, schon in meinem Vortrag mal ausgeführt und als zentrale These fürs Buch vorgesehen.
@ e.r.
Sofern du Kartelle als Verschwörungen und Patente als verschwörungsrelevant ansiehst, ja 😉
June 7th, 2011 at 23:59
hey das ist cool. wann ist das buch fertig?
June 8th, 2011 at 00:09
Das schreibe ich zum großen Teil von Juli bis September, rauskommen wird es aber vermutlich erst Anfang nächstes Jahr.
Straight Edge bleibt für mich sehr wichtig, weil es bei allen üblen Formen, die es angenommen hat, auf einen sehr radikalen und sympathischen Impuls des Nichtmachens zurückgeht und m.E. das Spannungsfeld zwischen der zurschaugestellten Selbstbeschädigung von Punk und der handlungsfähigen Autonomie von Hardcore stark mitgeprägt hat. Das ist auch fürs Egotronic-Buch relevant, weil Torsun (und die meisten Menschen um ihn herum) aus beiden Traditionen stammt und sie in seltsamer Weise verbunden hat.
June 8th, 2011 at 02:54
“Die Verfechter der Substanz sind wie Kühe; Anhänger der Leere noch viel schlimmer.” Saraha
Obligatory youtube-clip:
http://www.youtube.com/watch?v=lb0K0o_tyNE
June 17th, 2011 at 20:29
Verzicht kann selbstbestimmte Leidenschaft sein, aber in Begleitung von Neid auf diejenigen die dabei nicht mitmachen wollen ist er nur profaner Distinktionsgewinn.