L’insurrection sans moi?
September 29th, 2011Tiqqun, TOP und Terminal 119: Gedämpfte Töne in drei Variationen
Gastposting von Eric Ostrich
Es gibt ja Leute, die sorgen sich darum, daß dieses fragile, aber langlebige Realphantasma, genannt die Linke, dem wenigstens partiell über die Jahre ein wenig Zurückhaltung und Selbstkritik beigebracht worden sei, in jüngster Zeit gewissermaßen einen Rückfall erlitten habe und in aktualisierter Form die schlimmsten Eigenschaften der Bewegungslinken reproduziere. Mahnungen, Warnungen und Verdammungen in diesem Sinne werden häufig in Verbindung mit der Frage des Aufstands und des Umgangs von Linken mit diesem im x-ten Frühling stehenden historischen Phänomen vorgebracht: Es gebe einen Aufstandshype, Riots und Randale würden abgefeiert, die Massen, wo auch immer sie sich gerade versammeln, ob in Kairo, Madrid oder Athen, würden alleine schon wegen ihrer quantitativen Existenz als Verjüngungskur für die sich radikal dünkende Bewegung bejubelt. Nun, eine Gelegenheit, wo all dies, zumindest dieser zeitgenössischen Legende nach, auf jeden Fall zu erwarten gewesen wäre, bestand am letzten Sonntag: Die Gruppe TOP B3rlin, die von der Moderatorin des Abends ja tatsächlich immerhin als eine Postantifagruppe, die “linksradikale Bewegungspolitik mit kritischer Theorie nach Marx” vereine, beschrieben wurde, lud unter dem Titel ‘L’insurrection et moi’ zu einer Veranstaltung ins Clash, wo sie sich das Podium mit einem Mitglied der Gruppe Terminal 119 aus dem unruhegeprägten Griechenland und einem Vertreter von Tiqqun aus Frankreich teilte – einer Gruppierung, die ohnehin gerne assoziiert und kurzgeschlossen wird mit der wie ein Gespenst in Europa umgehenden Schrift ‘Der kommende Aufstand’ des Unsichtbaren Komitees. Daß zu diesem Autorenkollektiv unter anderem auch Julien Coupat gehört, also der Unikarriere-Verweigerer und Einwohner von Tarnac, den der französische Staat schon mal unter Vorgabe fadenscheiniger Begründungen ein dreiviertel Jahr ins Gefängnis gesteckt hatte und dem man, so muß das Spektakel denken, gerne unterstellt, er sei das Mind hinter ‘Der kommende Aufstand’, mag den einen oder anderen Besucher noch mehr zu der Vermutung gebracht haben, hier werde gleich wild agitiert und zu politischer Kriminalität und allerlei unanständigem Aufständischen aufgerufen.
Wer unter den reichlich 200 Leuten im Clash eine solche Vermutung auch noch als Hoffnung hegte, wird allerdings eher enttäuscht worden sein (was ja oftmals ein Erkenntnis vorbereitender Vorgang ist). Auf je eigene Weise zeigte sich keiner der drei Vortragenden euphorisiert von der Kette der Ereignisse der letzten Jahre, die man vielleicht mit den Unruhen in den Pariser Banlieues 2005 beginnen lassen könnte und die Anfang August in England in Angriffen auf Polizei und Warengesellschaft einen aktuellen Ausdruck gefunden haben. Die griechische Gruppe Terminal 119, deren Vertreter mit seinem Beitrag den Anfang machte, hat als deutschen Publikationsort für ihre Texte die Phase 2 gewählt, also ein im Ganzen doch eher links-akademisches und Aktivismus eher theoretisierendes als auslösendes Blatt gewählt. Demgemäß sprach der griechische Gast zwar anfangs abstrakt positiv über die Möglichkeit, daß dem Ausnahmemonat Dezember 2008 in Griechenland ein “Dezember der Arbeiter”, mündend in einer Revolution, folgen könnte, konzentrierte sich aber in seinen Bemerkungen über aktuell und real geschehende Vorgänge in Griechenland darauf, im Prinzip dem ganzen Spektrum von Protestierenden diverse Mängel zu attestieren: Mit Ausnahme der Basisgewerkschaften, “dem einzigen Lichtblick”, kümmere sich niemand angemessen um die Situation der Migranten und das Ausmaß des Nationalismus, der sich zuweilen bis hin zur Pogromstimmung ausweite. Die griechische Variante des ‘Empörten’-Phänomens, das auf den besetzten Plätzen des Landes zu beobachten sei, zeichne sich sogar dadurch aus, daß die daran Beteiligten die zwischen ihnen zuhauf bestehenden Widersprüche nicht nur unter einfachen und reaktionären Parolen, sondern ganz schlicht selbst durch Nationalismus verdeckten. Zudem bestünden allerorten in der Protestszene bezeichnende Erinnerungslücken, indem die besten Traditionen der griechischen Arbeiterbewegung weitgehend vergessen worden seien, zum Beispiel der Widerstand gegen die Deportation der Juden aus Thessaloniki. Was also Terminal 119 betrifft, so der Eindruck, den das Referat vermittelte, macht die Gruppe bei den bestehenden Protesten lieber nicht mit und schon gar nicht begeistert. Stattdessen forderte ihr Vertreter abschließend einen – im Vergleich zum Großprojekt eines Aufstands doch bescheiden klingenden – “internationalen Antinationalismus”, der aus dem Angriff auf den Eurozentrismus, der Unterstützung vor allem muslimischer Migranten und – ging da ein Raunen durch den Saal? – der Verteidigung des Existenzrechts Israels bestehe.
War also somit aus Griechenland schon nichts eminent Aufständisches zu vernehmen, schloß sich auch der Vertreter von TOP B3rlin mit eher skeptischen und grübelnden Ausführungen an. Zwar sei ja wirklich gerade Krise, die bestehe allerdings im Prinzip schon seit den 1970er Jahren als sich verschleppende Verwertungskrise, während auf der Seite derer, die dem schlechten Ganzen fundamental Abhilfe schaffen könnten, Theorie und Praxis seit geraumer Zeit schon auseinandergebrochen seien. Daran änderten auch keine Massenproteste etwas, die zum Beispiel bei Stuttgart 21 sich eh nur auf der Ebene der Symptome bewegten, und auch keine Plünderungen wie jüngst in London, die der TOP-Vertreter im Kern als Umsetzung neoliberaler Vorstellungen interpretierte und damit zu erledigen glaubte, weil die meist jungen Leute sich eben wie “aggressive Marktteilnehmer” verhalten hätten. Er konstatierte noch einen Epochenumbruch, der gerade stattfinde, der aber ähnlich wie 1968 doch nur ein innerkapitalistischer sei, in dem sich die Alternative zwischen Sozialismus oder Barbarei (oder alternativ “präventive Konterrevolution”) sicherlich stelle, die Perspektiven aber angesichts der historischen Erfahrung und der Bewußtseinslage der Bevölkerung düster seien. Entsprechend negativ auch die Schlußempfehlung des TOP-Vertreters: Besser nicht auf Volk, Minderheiten oder Unterdrückte setzen, sonst gehe der kommende Aufstand womöglich nach hinten los.
Größer angelegt, aber auch nicht gerade massenagitatorisch, sondern eher zurückhaltend und zögerlich vorgebracht, dann die Ausführungen des Delegierten von Tiqqun. Statt dazu aufzurufen, sich ins weltweite Handgemenge zu stürzen, war seine Hauptempfehlung eine Art kontrollierte Zurückhaltung. Zwar passiere gerade jede Menge in der Welt, eine ganze Sequenz von zusammenhängenden, wenn auch noch schwer zu verstehenden Vorgängen: Der Kapitalismus erweise sich als ein ökologisches Desaster, die Eliten fungierten nicht mehr als solche, die Finanzmärkte seien im Dauerzusammenbruch, die vormalige Anti-Globalisierungsbewegung finde sich nun quasi überall wieder, in Griechenland verhalte sich auf einmal das ganze Land, als ob es Dezember 2008 wäre – angemessener Anlaß für ein “Unbehagen in der autonomen Kultur”, wo diese Entwicklungen zu einer schweren Identitätskrise führen müßten. Dies sei jedoch auch eine Zeit, in der Revolution nicht nur wieder denkbar werde, sondern sogar die herrschende Propaganda sich gezwungen sehe, Revolutionen, wenigstens anderswo stattfindende, zu loben, und auch reaktionär-reformistische Organisationen wie zum Beispiel Attac gar nicht mehr anders könnten, als eine “Krise der Zivilisation” festzustellen. Effektiv jedoch handle es sich, wenigstens bislang nicht um eine Krise, sondern vielmehr um einen “Diskurs über die Krise”, mittels dessen neue, von Tiqqun “kybernetisch” genannte Verfahrensweisen, um die Bevölkerung zu managen, eingeführt würden – allerdings nicht mehr mit einem Versprechen des Fortschritts, sondern durch Katastrophen- und Bedrohungsszenarien als der neuen praktischen Gestalt des Politischen in dem Begriffspaar ‘Politische Ökonomie’, das beinahe alle Marxisten nie als das hätten verstehen können, was es sei: eine Wissenschaft zur Aufstandsbekämpfung durch Verwalten der Menschen und ihrer Hirne. Die Erfolgschancen für diese neuen Regierungstechniken schien der Tiqqun-Vertreter eher hoch einzuschätzen, zumal auch solche Protestphänomene wie die Platzbesetzungen in Spanien mit ihren “depperten Parolen wie: Wir zahlen Eure Krise nicht!” nichts Subversives, sondern das “Erscheinen des Irrsinns des Internets in Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses in der wirklichen Welt” seien, bei dem die Menschen als ein “Netzwerk von Neuronen” zusammenkommen. Was soll man nun aus dieser Situation machen, wenn man das Ziel einer Revolution verfolgen will? Auch Tiqquns Antworten waren an diesem Abend im Grunde negativ und kaum geeignet, das Publikum in einen gewaltaffinen und vernunftfernen Mob zu verwandeln: 1. (und wohl die zentrale Tiqqun-Botschaft an die Anwesenden dieses Abends, die wenigstens beim Terminal-119-Vertreter auf Resonanz gestoßen ist, der sich nun an den – offenbar nicht nachhaltigen – “Verlust jeder Gruppenidentität” als seiner befreienden Haupterfahrung im Dezember 2008 erinnerte) “Zerstört alle politischen Identitäten der letzten 30 Jahre.” 2. “Was notwendig ist, ist strategische Intelligenz. Man muß es schaffen, die zusammenhängende Abfolge all dieser Ereignisse von oben zu betrachten, wie Geier, die über einer Landschaft kreisen. Von Aktivismus, gutem Gewissen oder Goodwill ist dabei abzuraten.” 3. “Sich organisieren – jenseits der angestammten politischen Identitäten –, um ein gemeinsames, strategisches Verständnis der Situation zu gewinnen, sich organisieren, um die Situation zu beherrschen.”
Also auch von Tiqqun weder ein Call for arms noch for chaos, allerdings, im Unterschied zu TOP und Terminal 119, keine Bedenkenträgerei gegenüber ‘den Massen’, die stattdessen als ein Phänomen in einer “Sequenz von Ereignissen” (zu denen auch das Publikum des Abends zählte) einer kühlen Einschätzung aus der Distanz unterzogen werden. Damit wurden gleichsam die gerne übersehenen Passagen aus ‘Der kommende Aufstand’ dargeboten, in denen für das Vorhaben der Umwälzung statt Militanz ein langer Atem empfohlen wird. Auch an die kritische Bedeutung, welche die Methode ‘Genua 2001’ bei Tiqqun und Verwandtem einnimmt – aber eben als Erfahrung des Scheiterns –, kann man sich hier wohl erinnern.
Ach ja, eher unverbunden sei abschließend noch eine kleine Pointe des französischen Gasts mitberichtet: Gefragt, wie er denn, auch angesichts der offensichtlichen Bezüge auf bestimmte Autoren, behaupten könne, Tiqqun sei alles andere als “postmodern”, erwiderte er, daß es sich hier wohl um eine Art kulturelles Mißverständnis handle: Es sei schon möglich, daß Ideen wie die von Deleuze, Guatarri oder Foucault, wenn sie in Amerika ankommen, dumm werden. In Deutschland würden sie offenbar deutsch. Wenn man diese Autoren und auch Tiqqun unbedingt postmodern nennen will, sei dies zwar ganz falsch, aber wiederum schon okay beziehungsweise ihm egal.
September 29th, 2011 at 08:59
War selbst auch dort, aber nicht so aufnahmefähig. Ergänzen würde ich lediglich den schönen Satz des Tiqqun-Vertreters, wir müßten aufhören, uns selbst und die Welt als getrennt ansehen: “Unser Innerstes ist das Globalste.”
Und eine Frage hätte ich auch: Im Diskussionsteil berichtete der Genosse von Terminal119 aus Griechenland von einem Übergriff auf einen Nigerianer wegen Drogenhandels, bei dem eine 17jährige vorgeschickt wurde, um nach Drogen zu fragen. Hat dazu jemand einen Link oder kennt jemand die Geschichte? Habe ich das richtig gehört, daß es sich bei den Angreifern um Politaktivisten gehandelt haben soll?
September 29th, 2011 at 10:47
Interessant fand ich auch die Unterschiede in der Darstellung des Syntagma-Platzes im Vergleich zu den Berichten in deutschen Medien. Der Platz sei laut griechischem Genossen zweigeteilt. Im nördlichen Teil die nationalistischen Grüppchen, Kryptofaschisten und Linksnationale, die unter dem Deckmäntelchen der “Empörten” kuscheln und – streng separiert davon – im Süden das gleiche Versteckspiel, nur das dort linke Parteien und Gewerkschaften die Fäden in der Hand hielten.
Das zeigt die Gratwanderung in der Forderung nach dem Hinter-sich-lassen von politischer Identität. Da ziehe ich politisch-diffuser Mobbildung doch lieber klar-sichtbare und identitäre Grabenkämpfe vor.
September 29th, 2011 at 11:44
Klingt ganz nach diesem merkwürdigen Vorfall, wobei in dem Indy-Bericht auch nicht deutlich wird, wer da jetzt angegriffen…
http://de.indymedia.org/2011/09/316493.shtml
September 29th, 2011 at 13:39
Vom hundertsten in tausendste und am Ende weiss mensch doch kein bisschen, was auf der Veranstaltung gesagt wurde oder was dieser Ostrich (der sich scheinbar gerne selber reden hört) darüber sagen will. Kulla, Du solltest wirklich auch über Gastbeiträge mal drübergehen.
September 29th, 2011 at 16:23
BIG SPOILER
September 29th, 2011 at 18:26
anarchisten haben jedenfalls aktionen gegen drogenkonsumenten in excharchia mitgemacht:
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/12/10.mondeText.artikel,a0048.idx,14
http://www.faz.net/artikel/C31325/ausschreitungen-in-griechenland-ausweitung-der-kampfzone-30109184.html
http://de.indymedia.org/2010/03/275826.shtml
September 29th, 2011 at 20:40
hier wird etwas ähnliches berichtet:
http://de.indymedia.org/2011/09/316493.shtml
October 3rd, 2011 at 14:51
“Angriff auf den Eurozentrismus, der Unterstützung vor allem muslimischer Migranten und – ging da ein Raunen durch den Saal? – der Verteidigung des Existenzrechts Israels bestehe.”
Hat dieser Cafe Morgenland Typ noch immer nichts an Attraktivität verloren?
October 3rd, 2011 at 19:47
[…] Gastposting von Eric Ostrich bei CLASSLESS KULLA hängt dem Titel freundlicherweise ein Fragezeichen an und gibt neben eines Gesamtüberblickes zum […]
October 4th, 2011 at 09:50
Auch wenn ich den GSP wg. Israel bedenklich finde, hier ein interessanter Termin von ihm zum Thema!
Um mit dem GegenStandpunkt ins Gespräch zu kommen, gibt es Gelegenheit.
Jeweils einmal im Monat werden ab 18.30 Uhr im »BAIZ«, Christinenstraße 1 (Ecke Torstraße, Nähe U-Bhf Rosa-Luxemburg-Platz), aktuelle oder grundsätzliche Themen vorgestellt und diskutiert.
nächste Termine:
14.10.2011 Protest in Europa
Zu den Protestbewegungen Die Empörten!, 15-M und Echte Demokratie jetzt!: Eure Empörung ist verkehrt sie lebt von Illusionen über Krise, Demokratie und Marktwirtschaft.
Europa spart am Lebensunterhalt seiner Bürger. Die demokratischen europäischen Regierungen machen das Leben ihrer Völker dafür haftbar, dass ihre Wirtschaft zu wenig wächst und die Kreditwürdigkeit ihrer Nation im Eimer ist. Deswegen haben die verantwortlichen Staatsführer ihren Bürgern ein gewaltiges soziales Abbruchprogramm verordnet.
Betroffene melden sich zu Wort und protestieren. Dass sie das tun, ist überfällig: Nur wie!
October 6th, 2011 at 14:46
Das ist selbst schon eine zivilgesellschaftlich verengte Sicht der Dinge. Um seine Pleite hinauszuzögern bedroht der Totalitarismus der Demokratie nicht nur die Lebensgrundlagen der örtlichen Bevölkerung sondern auch Leib und Leben von Außenstehenden – siehe Panzergeschäft. Die Feststellung dass der kriminelle Bundessicherheitsrat damit den Souverän in Geiselhaft nehmen will ist also doppelt zutreffend – nicht nur durch den mörderischen Sozialabbau, sondern auch in Form der völkerrechtlichen Haftung der Bevölkerung für Staatsführungsverbrechen gegen Dritte. Viele womöglich unbeholfen erscheinende Formen des Protests erklären sich daraus, dass dieser dadurch genötigt ist sofort über die unmittelbar eigenen Interessen hinauszugehen und auch im Interesse Außenstehender Widerspruch einzulegen. Denn wer schweigt stimmt zu, wer über keine Worte verfügt um die Ursachen seiner Probleme zu benennen muss mit Ausdrucksformen experimentieren, und wer außer menschenrechtspolitischen Abbruchprogrammen nichts zu bieten hat gegen den bedarf es ohnehin keiner weiteren Erklärungen mehr.