Der Zweck entheiligt die Rauschmittel

May 28th, 2014

Antwort auf Udo Wolters Antwort in der Jungle World

Schön, wenn mir mal jemand ausführlich antwortet. Umso schöner, wenn es jemand ist, der nach seiner Eingangsformulierung zu urteilen – “Immer, wenn ich Texte von Daniel Kulla über Rausch und Drogen lese…” – mit meinen Auffassungen und Erkenntnissen einigermaßen vertraut zu sein scheint.

Schade, wenn sich dann herausstellt, daß ich einige der wichtigsten Sachen, die ich über den Rausch herausgefunden zu haben meine, nach wie vor nicht deutlich genug machen konnte. Und auch schade, daß ich in Udo Wolters ganz schön festgefügter Weltsicht nicht mehr auslösen konnte als die leider üblichen Zurechtrückungsreflexe: statt aus dem Rausch (und seinem Genuß) etwas beziehen zu wollen, das möglicherweise zur Veränderung der Welt beitragen könnte, müßten laut Wolter die alten Hippie-Märchen über den Zusammenhang von Rausch und Revolte endlich in der Klamottenkiste verschwinden und Rausch möglichst jedes Zwecks entkleidet werden.

Also versuche ich hier mal, aus dem “schade” klug zu werden, meine Erkenntnisse zu verdeutlichen und die Reflexe zurückzuweisen.

Mehr so Erklärteil

Mit Rausch bezeichne ich die Fähigkeit vermutlich aller Nervensysteme, ihr eigenes “Rauschen”, also die Reibungen, Streuungen, Verluste und vor allem Überlagerungen bei der Signalweitergabe und -verarbeitung auszunutzen, wobei Zeit, Information bzw. Informationsverbindungen und Handlungsoptionen gewonnen werden können. “Fähigkeit” und “können” heißt, das klappt nicht immer. Der mir bekannte Forschungsstand legt nahe, daß es diese Fähigkeit schon solange gibt, wie es Nervensysteme gibt, und daß sie sich demnach seit mehreren Hundert Millionen Jahren immer weiter entwickelt und spezialisiert hat. Rausch ist also universell und alltäglich.

Ein Nervensystem, das nicht “rauscht”, ist tot; solange es am Leben ist, wird es “rauschen” und dieses “Rauschen” auch die meiste Zeit über in Rausch umsetzen – das heißt, Rausch begleitet uns in unterschiedlicher Form und Intensität durch unser ganzes Leben und ist eine wesentliche Komponente solch alltäglicher Lebensaspekte wie Träumen und Appetit, ist mit unserem gesamten Denken und Erleben vielfältig verflochten.

Ich habe für die Veranstaltungen zum Buch diese ganz grobe Übersicht zu den wichtigsten Subsystemen des Nervensystems erstellt, die sich im Laufe der Evolution spezialisiert haben und die alle auch gezielt angesprochen werden können (und zusammenwirken):

Rauschsysteme
links die zusammenwirkenden Subsysteme,
in der Mitte grob ihre chemische Vermittlung,
rechts Möglichkeiten, sie anzusprechen –
die Slides komplett: als PDF

Rausch fungiert meist als Reaktion des Nervensystems auf nicht Selbstverständliches, auf Überraschungen, Herausforderungen, Bedrohungen. Art und Intensität des sich einstellenden Rauschs wie auch des zusätzlich aufgesuchten und herbeigeführten Rauschs hängen davon ab, welchen und wievielen Nicht-Selbstverständlichkeiten sich jemand gegenübersieht.

So wie es sinnvoll sein kann, sich mit den Anteilen von Rausch an seinen anderen Wirkungsbereichen zu beschäftigen, gilt das auch für seinen Anteil an Erkenntnis, Unzufriedenheit und Veränderungswünschen. Wenn Wolter also über die Umstände unter denen Rausch “emanzipative Qualitäten” haben kann, schreibt: “Dass diese Umstände sich einstellen, liegt aber an einer bestimmten, unter anderem eben mit der Be­fähigung zu kritischer (Selbst-)Reflexion verbundenen Erfahrungsfähigkeit, die dem Rausch vorgängig ist und sich nicht auf wundersame Weise durch diesen selbst einstellt. Auch hier würde Kulla sicher zustimmen.” – dann rufe ich laut Nein! Wie soll die Erfahrungsfähigkeit denn dem Rausch vorgängig sein? Sie ist mit ihm lebenslang verbunden! Wolter hat weiterhin den episodischen Rausch vor Augen, der keinen relevanten Anteil an der Herausbildung von Auffassungen und Selbstreflexion hat. (Und eine Befähigung zur Fähigkeit – welcher Fetisch mag diese Blüte wohl hervorgebracht haben?)

Wie ich mir Wege aus dem allgemeinen abhängigen Dauerrausch vorstelle und wie Rausch ohne Herrschaft aussehen könnte, habe ich in “Leben im Rausch” skizziert und füge hier mal Auszüge davon als PDF ein: Besinnung, Befreiung, allgemeine Verdichtung.

Mehr so Ärgerteil

All das ist aber läßlich und nicht weiter verwunderlich, da in dieser Gesellschaft, wie ich in meinem von Wolter beantworteten Text schrieb, der Blick am Rausch vorbeigeht, und das schließt leider eben auch Wolters Blick (bislang) mit ein. Was mich jedoch wirklich ärgert, ist die beschränkte wannabe-bürgerliche Perspektive, die aus Wolters Text spricht, und die ihn dazu bringt, mir allerlei unterzuschieben.

Es ist ohne Frage angenehm und auch wünschenswert, wenn sich Menschen möglichst weit von Zwängen und Zwecken lösen können. Angesichts der Durchdringung des Lebens der allermeisten Menschen mit Zwängen und Zwecken ist es jedoch schlicht gemein, das als Ideal und Forderung aufzurichten, und zu verlangen, man möge aus dem Rausch am besten nichts als den reinen und wahren Genuß beziehen (wie auch immer der aussehen soll) und bloß nicht versuchen, vielleicht mal auf die ‘dummen Gedanken’ zu kommen, die einem sonst so wirksam und beständig ausgetrieben werden. Im entschlossenen Kampf gegen die Genußfeindschaft wird der Genuß zum autonomen Kunstwerk unter den menschlichen Zuständen erhoben, darf idealerweise überhaupt nichts mehr bedeuten und muß am besten auch unproduziert vom Himmel fallen. (“Wenn aber der Rausch zu einer geglückten Erfahrung mit emanzipatorischem Potential werden soll, muss er sich vielleicht gerade selbst genügen.”)

Diese Haltung wird m.E. auch an Wolters verständnislosem Abwatschen des “kontrollierten Kontrollverlusts” deutlich, den er schlicht für absurd hält, obwohl er ja meist einfach nur sowas ist wie z.B. sich vorher zu überlegen, wer fährt. In der bürgerlichen, unproduzierten Idylle trübt jeder Rahmen und jede Organisation bereits den reinen und wahren Genuß, während außerhalb dieser ideologischen Phantasie der Wein erstmal angebaut und die Kotze hinterher wieder weggewischt werden muß.

Während ich die Bemerkungen über “Hippie-Kult” und “die alten Mythen von den ‘bewusstseinserweiternden Drogen'” nicht weiter ernst nehmen kann, weil sich da eine recht typische (bundes)deutsche Perspektive vor wesentliche Teile der Auseinandersetzungen in den USA und die umfangreiche Forschung schiebt und ich nur mit der Verknüpfungsgirlande “zwar… aber dennoch… dann doch… dann eben doch…” für diese Perspektive zurechtgebogen werden kann, finde ich die Unterstellung, ich würde den armen Rausch und vor allem seinen Genuß mit allerlei auf- und überladen und mich so mit den Genußfeinden gemeinmachen, “dann doch” recht ärgerlich.

Um mich in diese Ecke zu bekommen, verliest sich Wolter mindestens interessiert: “Ständig sollen die Leute bei Kulla was aus ihrem Rausch machen, »Übungen« unternehmen, »erkunden« und etwas »schaffen«. »Rauscherkundung« und »politische Aktion« sollen gar »ständig aufeinander zurückwirken«, auf dass der Rausch nicht etwa zum »Selbstzweck verkomme«.” Niemand soll hier ständig irgendwas – nur zweierlei “sollte” in meinem Text:

“Niemals sollte die Rauscherkundung dabei [beim Versuch, das revolutionäre Potential des Rauschs zu ergründen] an die Stelle der politischen Aktion treten; im Gegenteil muss beides, wenn es nicht zu Ersatzhandlung und Selbstzweck verkommen soll, ständig aufeinander zurückwirken können. Welche Rauschformen, welche auslösenden Substanzen oder Übungen dafür am besten geeignet sind, sollte nicht einfach aus Vorbildern abgeleitet werden, die aus teilweise grundverschiedenen Bedingungen stammen, sondern muss immer wieder selbst für jede Einzelne erprobt und erkundet werden.”

Ich hab also nicht die völlig unsinnige Forderung erhoben, der Rausch solle nicht zum Selbstzweck werden – das kann er ja überhaupt nicht und entsprechend ist meine Ermahnung dazu auch nicht nötig – sondern gesagt, daß die Erkundung des Rauschs nicht als Selbstzweck betrieben werden sollte, sofern es dabei um sein gesellschaftliches Veränderungspotential geht.

Also, Udo: du sollst gar nichts. Wenn du die Gesellschaftsordnung überwinden willst, wäre es meines Erachtens einfach nur schlauer, wenn du aufhörst zu glauben, der Rausch, in dem du wie alle anderen praktisch immer lebst, hätte keine relevanten Auswirkungen auf deine Auffassungen und dein Denken. Wenn du einfach nur ein Bier trinken willst, mach das doch. Und wenn du aus dem Rausch, den du beim Biertrinken hast, einen Gedanken beziehst, ist das auch super. Wenn der Gedanke was taugt, schön, wenn nicht, auch nicht schlimm. No judgment on my part.

Mehr so Schlüsse

Es gibt außer Selbstantreiberei und Andere-Antreiberei noch sowas wie lustvolles oder unlustvermeidendes Tätigsein. Sowohl ein Bild von Genuß und Rausch, in dem diese immer irgendwas sollen oder müssen, als auch ein Bild, in dem sie nichts weiter dürfen, wird ihnen nicht gerecht. Beide Bilder formulieren nur komplementäre ideologische Figuren, sozusagen das Gut und Böse in der Gesellschaft der abhängigen Arbeit.

Ich will nicht Recht haben, will niemanden antreiben und keine alte Mythen aufwärmen (was ich auch nicht mache). Ich versuche rauszufinden, was stimmt, was los ist und was getan werden könnte – und versuche das mit soviel wie möglich Menschen zu teilen. Wenn ich damit nicht durchdringe, stimmt’s vielleicht noch nicht, es fehlt noch etwas, die gesellschaftlichen Bedingungen sind zu beschissen oder ich bin derzeit einfach nicht fit genug, es tauglich zu vertreten. Wenn es aber schon daran scheitert, daß einfach die Reflexe anspringen und ich im ollen Koordinatensystem in die ollen Ecken gesteckt werde, finde ich das blöd und sehr bedauerlich. Und wenn sich weiter zu jeder greifbaren Ausrede gerettet wird, um die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht führen zu müssen, wird sich an den Bedingungen auch wenig ändern.

Die Erringung eines höheren relativen Freiheitsgrades vom Zwang der Zwecke wird, wenn sie mehr als eine Nischenveranstaltung sein soll, durch die Überwindung der Gesellschaftsordnung möglich, die diesen Zwang systematisch ausübt. Gegen dieses Vorhaben spricht nicht, wie unwahrscheinlich es derzeit ist. Das müßte angesichts des Gesamtlage viel eher ein Grund sein, es zu versuchen. Das Problem statt in Herrschaft und Konkurrenz lieber in “pathische[r] Projektion einer von Produktivitätswahn beherrschten »Leistungsgesellschaft«” zu sehen, den Ausweg statt in Widerstand und Klassenkampf (und damit verbundener Selbstaufklärung) also eher in Psycho- und Pathologie (und damit verbundener Belehrung) zu suchen, ist schon durch diese Gegenüberstellung vielleicht eine der wirksamsten Ausreden unserer Zeit.

Die abhängige Arbeit kann sich jedoch nicht allein auf der Couch abschaffen, und auch nicht, ohne das Kapital anzurühren.

4 Responses to “Der Zweck entheiligt die Rauschmittel”

  1. Name Says:

    Ich mag den hintergründigen Humor in diesem Posting…

  2. classless Says:

    Danke schön!

  3. Name Says:

    Bitte sehr!

    Und ich glaube, dass ich die Sache mit der Permanenz des Rauschs jetzt auch zum ersten Mal wirklich kapiert habe… (vermutlich!)

  4. Hierarchieallergie Says:

    Pharmakologisch mißlungen, Brot und Wein sind nicht psychoaktiv, und auch Schweinefleisch nur im Rahmen der Nahrungskette wenn das Tier etwas Pharmazeutisches zu sich genommen hat. (Lediglich Alkohol wirkt in hohen Dosen als Betäubungsmittel.) Und bei der kulturpsychologischen Argumentation ist selbst Wolfgang Neuss weiter gewesen.

    Die pseudowissenschaftliche “Anprangerung des Hippietums” ist in Wirklichkeit die narzißtische Kränkung darüber den Verlust des Menschheitserbes Rausch aus der eigenen Lebenserfahrung nicht einmal als solchen wahrgenommen zu haben.

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