Sterben fürs Eigentum

December 8th, 2016

In Paraguay wurden dieses Jahr Bauer*n verurteilt, die sich gegen ihre Vertreibung vom immer stärker konzentrierten Grundbesitz gewehrt hatten.
Gastbeitrag von Magui López.

“Rachid, Feigling, an deinen Händen klebt Blut”, rufen vor dem Justizpalast in Paraguays Hauptstadt Asunción die Protestierenden aus sozialen Bewegungen und fordern Gerechtigkeit und Freispruch. Drinnen wird das Urteil gegen Beteiligte der gewaltsamen Konfrontation im östlichen Wald- und Acker-Distrikt Curuguaty vor vier Jahren verkündet, als bei der Räumung besetzten Landes auch sechs Polizist*n ums Leben kamen. Jalil Rachid war als Staatsanwalt lange Zeit federführend im Prozess und steht der Familie nahe, die Anspruch auf das Land erhebt. Die einzig Beschuldigten und Verurteilten waren Bauer*n. Wegen der elf Getöteten aus ihren Reihen wurde von niemandem ermittelt.


Proteste vor dem Gerichtsgebäude

In der Anklage hieß es, Frauen und Kinder seien benutzt worden, um die Polizist*n zu täuschen und den Eindruck zu erwecken, es sei sicher, mit der Räumung des besetzten Landes fortzufahren. Drei Mütter, die im Juli wegen krimineller Vereinigung und Landfriedensbruch zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, beschuldigte die Justiz des “Verbrechens”, ihre Kinder auf den Armen getragen zu haben, um “ein Klima des Vertrauens zu schaffen”. Die Ereignisse des 15. Juni 2012 wurden als Massaker von Curuguaty zu einem der Gründe für das Amtsenthebungsverfahren, zu dem sich das Parlament gegen den damaligen Präsidenten Fernando Lugo Méndez entschloss. Diesem wurde auch die Unterstützung der Bauer*nbewegung und ihrer Widerstands- und Besetzungsstrategien vorgeworfen.

Land-Monopoly

Paraguay gehört zu den Ländern in Lateinamerika mit der höchsten Konzentration von Landbesitz. Die Agrarwirtschaft zählt neben den Wasserkraftwerken und dem Schmuggel zu den wichtigsten Einnahmequellen. Die Wirtschaft des Landes ist 2015 und 2016 stetig gewachsen, und wenn die Wirtschaft wächst, nehmen auch Ungleichheit und Armut zu. Die Besteuerung trifft die unteren Klassen härter. 2014 entfielen 24,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf Landwirtschaft und Viehzucht, aber nur 3,2 Prozent der eingenommenen Steuern, während 71 Prozent der Steuergelder aus der Mehrwertsteuer stammten.

Zwischen 1991 und 2008 (der Zeitraum der letzten beiden statistischen Erhebungen) nahm die Gesamtzahl der Landwirtschaftsbetriebe um 5,7 Prozent ab. Bei genauerer Betrachtung der Zahlen ist zu erkennen, dass Betriebe unter 100 Hektar weniger werden, während solche mit 100 bis 500 Hektar um 34,8 Prozent und solche mit mehr als 500 Hektar um 56,9 Prozent zunahmen. Dies beschreibt einen Prozess starker Konzentration in großen Ländereien. Es gibt weniger Betriebe, aber mehr bewirtschaftete Fläche (plus 30,5 Prozent), und gleichzeitig verschwinden die Kleinbetriebe, oder sie gehen in größeren auf, die ihre Ausmaße beibehalten oder vergrößern.

Fast 90 Prozent der bewirtschafteten Fläche bestehen aus Ländereien, die größer als 200 Hektar sind, und die Hälfte von ihnen sind größer als 10.000 Hektar. Ihre Eigentümer machen unterdessen nur 3,3 Prozent aller Eigentümer aus. Anders gesagt besitzen weniger Leute mehr Land und mehr Leute werden aus der Landwirtschaft gedrängt oder sind gezwungen, von Kleinst- und Familienproduktion zur Subsistenz zu überleben.

Ein weiteres Problem stellt der legale Status dar. Um den Besitz von Rechtstiteln an den bewirtschafteten Ländereien kämpfen der Nationalstaat, die drei Prozent Großgrundbesitz*r und die organisierten Bauer*nbewegungen, welche öffentliche Ländereien als Ziel einer Landreform fordern. Nach dem Zensus von 2008 haben 79,5 Prozent des Landes einen eindeutigen Eigentumstitel. Aber es gibt auch große Flächen (die Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission sprach 2008 von acht Millionen Hektar), die “tierras malhabidas” (“illegal angeeignet”) genannt werden, und die mit der Landverteilung unter der Stroessner-Diktatur (1954-1989) und teilweise vorher verbunden sind. Dieses öffentliche Land wurde von den Regierungen verkauft oder verschenkt, um politische Abkommen zu sichern oder sich für Gefälligkeiten zu revanchieren.

Der Landstrich in Curuguaty, der zum Schauplatz des Massakers wurde, heißt Marina Kue – Guaraní für: “gehört der Marine”. Das Unternehmen Campos Morombí, im Besitz von Blan N. Riquelme, Senator der Partido Colorado, zeigte eine Landbesetzung auf diesem Grund und Boden an, der von der Familie Riquelme bewirtschaftet wurde. Die Anzeige wurde vom Richter akzeptiert und er verfügte die Räumung.

Das erste Problem an Marina Kue ist, dass es rechtlich nicht zu Riquelmes Besitz zählt. Das Land gehörte einer anderen Firma namens “La Industrial Paraguaya S.A.” (LIPSA), die 1967 ihr Grundeigentum verkaufte und einen Teil (mehr als 2000 Hektar) der Marine Paraguays überließ, was Stroessner per Dekret bestätigte.

Dieses Geschenk wurde nicht im Grundbuch festgehalten und so wurde das Land seither ohne Rechtstitel von der Marine benutzt. Ende der 90er Jahre gab die Marine das Land auf. Wenige Jahre später organisierte sich eine Gruppe von Bauer*n in einer Bewegung zur Instandbesetzung von Ländereien im Departamento Canindeyú und meldete ihren Anspruch beim Nationalen Institut für Ländliche Entwicklung (INDERT) an. 2004 erklärte das INDERT die Ländereien zum Allgemeingut und damit zum Gegenstand der Umverteilung in der Landreform. Die Menschenrechtskoordination in Paraguay schrieb 2012 in ihrem Bericht, dass Blas N. Riquelme einen Teil des Landes 1969 von LIPSA zum Freundschaftspreis erworben hatte (umgerechnet 8 Cent pro Hektar) und außerdem illegal angrenzende Flächen nutzte, darunter auch ehemaliges Ahnenverehrungsland der indigenen M’byá.

Bis die Marine abzog, erkannte Riquelme deren Autorität an, doch sobald sie gegangen war und die Bauer*n ihre Forderungen geltend machten, führte Campos Morombi einen Prozess gegen LIPSA wegen Ersitzung, also feindlicher Übernahme des Lands, das nun für die Landreform vorgesehen war. Das war möglich, weil im Grundbuch das Land weiterhin auf den Namen von LIPSA geführt wurde, obwohl es de facto dem Staat gehörte.

Campos Morombí erklärte, dass sie das Land seit 1970 friedlich und nutzbringend in Beschlag genommen hatten und dass es ihnen daher gehörte. Nach vielen Verzögerungen und komplexen juristischen Verfahren beschloss der Richter, die Ersitzung zu erlauben, doch wegen Verwaltungsfehlern konnte Campos Morombi die Rechtstitel bis 2015 nicht erwerben.

2015 akzeptierte Horacio Cartes, der erste gewählte Präsident nach dem Parlamentsputsch gegen Lugo, die “Schenkung” von Marina Kue durch Campos Morombí und legalisierte so die Situation. Das Geschenk zu akzeptieren war eine Möglichkeit anzuerkennen, dass das Land der schenkenden Firma gehörte, auch wenn dem nicht so war.

Zusammengefasst gesagt starben 11 Bauer*n und 6 Polizist*n auf einem von Sicherheitskräften unter Anweisung der Justiz geräumten Land, um das Eigentum einer Firma zu verteidigen, die das Land nicht besaß.


Polizeikräfte

“Juristisches Monstrum”

Die Anklage richtete sich nur gegen die Bauer*n und zielte darauf ab, dass sie angeblich militärisch ausgebildet waren, einen Hinterhalt geplant hatten, die Polizei in Sicherheit wiegen wollten und sie dann angreifen. Die Polizei war deutlich in der Überzahl und die Bauer*n hatten keine modernen Waffen. Zum Zeitpunkt der Räumung umfasste die Gruppe der Besetz*r um die 64 Personen (darunter Frauen, Männer und Kinder), während die Polizei 324 Beamte aufbot (darunter Spezialkräfte mit militärischer Ausbildung). Gefunden wurden alte, nicht-automatische Waffen, die vor allem als Jagdwaffen oder zum Schutz gegen Wildtiere dienten. Auch konnte die Auswertung der Telefonverbindungen nicht nachweisen, dass die Bauer*n wussten, wann die Polizei kommen würde.

Zur Beweisaufnahme präsentierte die Staatsanwaltschaft Laternen, Gürtel, Radiobatterien, Schmerztabletten, Sonnenbrillen, Notizzettel mit Zahlen, Brieftaschen und Mitgliedsausweise der Bauernbewegung Movimiento Agrario Paraguayo. Ebenso wurden alte Macheten (typische Arbeitsgeräte von Bauer*n), unbenutzte Patronen, Schleudern, Küchenmesser, selbstgemachte Dolche vorgeführt. Insgesamt gab es nur Gegenstände zu sehen, die Bauer*n in ihrem Alltag verwenden und die sie zum Schutz ihres Lagers benötigten.

Nicht nur war das alles von geringer Beweiskraft, auch wurden die Rechte der Angeklagten missachtet, indem ihrem Anwalt der Zugang zu den Beweismitteln verwehrt wurde, bis sie trotz aller Regelverstöße bereits für das Verfahren zugelassen waren.

Im März 2013 erlaubte der Richter den Schwangeren Fanny Olmedo und Dolores López Paredes, beide Teil der Bewegung und der Beteiligung am Massaker angeklagt, in Hausarrest verlegt zu werden, was ein Jahr später auch fünf anderen Männern gewährt wurde, die mehr als 58 Tage in Hungerstreik getreten waren. Derweil wurden der Prozess und alle dazugehörigen rechtlichen Schritte verschoben und angefochten, so oft es ging.

Am 11. Juli diesen Jahres befand das Gericht nun elf Mitglieder der Bauer*nbewegung schuldig des vorsätzlichen Mordes, des Landfriedensbruchs und des kriminellen Zusammenschlusses. Villalba, der als Rädelsführer galt, wurde zu 35 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde auf Spanisch verlesen, und die Übersetzung in Guaraní, die zweite Amtssprache und für viele Bauern die einzige Muttersprache, wurde erst auf Drängen der Verteidigung nachgeliefert. Organisationen und Bewegungen aus Paraguay und aller Welt hatten gegen den Prozess mobilisiert. Für alle Menschenrechtsanwälte, die sich zum Fall äußerten, ist er ein “juristisches Monstrum”.

Mit diesem letzten Akt schließt sich der Kreis, und Justiz, Exekutive und Parlament bringen einen illegalen und illegitimen Vorgang zuende, der mit dem Tod von 17 Menschen begann, mit dem Sturz eines Präsidenten fortgeführt wurde und in der Verfolgung der Bauer*n gipfelte.

Katastrophe Akkumulation

Der Kapitalismus hat in Paraguay die ländlichen Regionen verheert. Die Verfolgung von Bauer*nbewegungen und ihrer solidarischen Kooperativen fand sowohl während der Diktatur wie auch seit 1989 in formal demokratischen Zeiten statt. Die Gruppen von Bauer*n, die sich gegen ihre Vertreibung in die Städte wehrten, wo es für sie angesichts der schwachen Industrialisierung extrem schwierig ist, in reguläre Beschäftigung zu kommen, wurden ruhiggestellt und vereinnahmt.

Es gibt nicht nur ein Curuguaty, es gab viele, und nicht nur in Paraguay, sondern auch in anderen Teilen Lateinamerikas, wo die Agrar- und Viehproduktion ganze Landstriche verheert und verelendet hat. Zwischen 1989 und 2013 wurden in Paraguay 115 Anführer und Mitglieder von Bauer*norganisationen entführt und umgebracht. Die Menschenrechtsorganisation CODEHUPY (Coordinadora De Derechos Humanos Del Paraguay) hat die institutionelle Verantwortung des Staates für diese Morde nachgewiesen: weil Streitkräfte sie ausführten, den Betroffenen kein Schutz gegen paramilitärische Angriffe von Latifundienbesitzern gewährt wurde oder weil sie unter dubiosen Umständen getötet wurden, die nie von der Polizei aufgeklärt wurden. Doch Anführ*r von indigenen und Bauer*nbewegungen wurden zu Zielen von Exekutionen und ständiger Verfolgung in der gesamten Region. 2015 wurden in Kolumbien mehr als 300 Bauernführer ermordet. Wenn wir dem Extraktivismus in Lateinamerika weiter nachgehen, finden wir Fälle in Brasilien, Perú, Nicaragua und einen besonders sichtbaren: die Ermordung der indigenen Umweltaktivistin Berta Cáceres in Honduras.


Berta Cáceres

Der Fall von Curuguaty zeigte die enge Verbindung zwischen politischen und ökonomischen Eliten – besonders in abhängigen Ländern oder solchen mit subsidiarer Wirtschaft –, zwischen Kapital und Justiz sowie zwischen Kapital und Repressionsapparat. Außerdem wurde die nur sehr schwache Verbindung zwischen dem Wahlvolk und den Herrschenden deutlich wie auch die enormen Befugnisse der politischen Eliten gegenüber denjenigen, die sie in ihre Positionen wählen. Curuguaty versinnbildlicht, wie ungerecht Justiz und Rechtsstaat sein können.

Übersetzung: Daniel Kulla

Weiterführend:

  • „Was geschah in Curuguaty?“
  • Zahlen zu Steueraufkommen: Borda and Manuel Caballero, “Eficiencia y Equidad tributaria. Una tarea en construcción”, 2014, CADEP, Paraguay
  • Magui López ist Doktorin der Sozialwissenschaften an der Universität Buenos Aires und schrieb in konkret 7/2016 über die Amtsenthebungsverfahren in Paraguay und Brasilien.

    [Artikel war für die Oktober-Ausgabe von “konkret” bestellt, wurde jedoch erst verschoben und dann vergessen.]

    One Response to “Sterben fürs Eigentum”

    1. Amzornigsten Says:

      Die Schweinereien werden immer noch grotesker, je weniger hingeschaut wird…

      Und wir helfen munter mit, indem wir nicht hinschauen.

      Beziehungsweise, indem wir so lautstark aufs Innere unseres Tellerrands, auf die Nation und den “Westen” schauen, die wir schon damit in ihrer Macht bestärken.

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