classless Jahresrückblick 2017
December 29th, 2017Ich bin nun 40 Jahre alt, blicke auf 24 Jahre Linksextremismus und 8 Jahre Facebook zurück, gab dieses Jahr 9 Clastah-Konzerte (4 vor Egotronic) und hielt 52 Vorträge (12 mit Magui López), 3 neue und 2 komplett überarbeitete Themen, 8 neue Städte – und der Don ist tot.
Was war los?
Weltweit verschärft sich die Konkurrenz der Staaten, und damit verschärfen sich auch ihre Ideologie (der Nationalismus) und der Klassenkampf von oben, das Zusammenspiel von neoliberaler “Sparpolitik” (Tax Cuts in den USA, Rentenreform in Argentinien, Ausweitung der Höchstarbeitszeit in Österreich usw.) mit dem Versprechen eines “geschützten” Arbeitsmarkts (rassistische und sexistische Hetze und Diskriminierung). Das Thema Klassenkampf ist dadurch insgesamt erheblich präsenter geworden, wird aber weiterhin zu oft gegen andere Kämpfe (Antifa, Feminismus, jeweils andere politische Fraktion) ausgespielt, statt als deren gemeinsame Grundlage genommen zu werden, und ist auch zu sehr davon geprägt, dass die Verschärfungen nun auch allmählich bei denen ankommen, die sie bisher ignorieren konnten, die Betroffenen im Stich ließen und sich gegen ihre Selbstorganisation stellten. So wird die Konkurrenz der Arbeitskräfte nicht überwunden oder ausgesetzt, sondern als Streit der alarmierten Einzelnen und der besseren Ersatznationen zusätzlich eskaliert.
Das Verhältnis von parlamentarischem und ökonomischem Klassenkampf wird zu wenig hergestellt (eher von oben: Kanzler Kurzens Gegenüberstellung “Gestaltungsmöglichkeiten auf betrieblicher Ebene” vs. “übergeordnete Ebene österreichweit”); es geht zu wenig um Selbstorganisation innerhalb und außerhalb der Großgewerkschaften, es gibt zu wenig Aufmerksamkeit und Unterstützung für konkrete und potentielle kollektive Aneignungsvorgänge (Bäckerei in Hannover, Fahrradwerk in Sangerhausen, Käserei in Bad Bibra). Es wird sich zu sehr auf die verschiedenen Traditionen besonnen, die den Arbeitskräften eine Avantgarde voranstellen, eine bürgerliche Organisationsform (mitsamt ihrer Konkurrenz, Hierarchie, Abgrenzung und Rechthaberei sowie öffentlich ausgetragenen internen Konflikten, am besten auf beiden Seiten unter Berufung auf Springer-Artikel). Die Linke macht sich zu sehr zur radikalen Verlängerung der (links)liberalen Rettung des Kapitalismus, behandelt entsprechend die AfD, “Compact” und die anderen offen nationalistischen Entwicklungen zu sehr als Ursache und zu wenig als Ausdruck der sozialen und politischen Entwicklung. (Vgl. Bundestag von links nach rechts: männlicher, deutscher, akademischer; Gründe für die Wahlentscheidung; Merkels Flüchtlingspolitik; Einkommensverteilung in den USA: The Disco Years)
Im Einzelnen
Die Gewalttaten (G20), Provokationen (eine Woche im Dezember) und Verstrickungen (NSU, Amri) der öffentlichen und geheimen Staatsgewalt werden zu sehr als Skandal und Verirrung behandelt, als Abweichung von der idealen Staatsgewalt, und zu wenig als Teil ihrer Funktion; die fraglichen Cops, ihre PR-Leute (“Polizeifunk für alle”) und ihre politischen Vertretung (Mario Lehmann zu Oury Jalloh) zu sehr als Gegner und zu wenig als zu überwindendes Hindernis.
Die Auseinandersetzung mit Luther war zu viel Zitatekritik und Reproduktion von Herrschaftsgeschichte, zu wenig Kritik am auf ihn gegründeten Nationalismus und auch zu wenig Sichtbarmachung der hinter ihm verschwundenen Aufstandsgeschichte. Beim Thema Oktoberrevolution ließen sich zu viele aufs Gut-schlecht-Was-wäre-wenn festnageln statt die vorausgegangene massenhafte Selbstorganisation und deren Nachwirkungen in den revolutionären Vorgängen ins Zentrum zu rücken. Die Kritik an Elsässer war zu sehr nur Oberfläche und direkte Aktion und zu wenig Grundlage für linke Selbstkritik (“Elsässer sucht Volk – was sucht ihr?“). Immer noch sind zu viel Linke in bezug aufs Ausland einfach deutsche Urlauber (“Nutella ist alle“) und empörte Romantiker (“Holidarity“), statt sich praktisch zu solidarisieren, hier erstmal solidaritätsfähige Strukturen aufzubauen und die Kämpfe in anderen Ländern hier aus dortiger Perspektive sichtbar zu machen. (Oh, wie weit ist Argentinien!) Der wichtige Aufbruch der Selbstartikulation von Betroffenen sexistischer Übergriffe (Notiz zu #metoo) wurde hierzulande viel zu sehr vom neuesten innerlinken Schisma überschattet, dessen frische Federn nun “der Gender-Kaiser ist nackt” in die NZZ schreiben. Die rassistische Gewalt wurde zuviel nur gezählt, auf Facebook zurückgeführt und einer “unentschlossenen” Polizei angelastet, und zu wenig in den Kontext der allgemeinen Verschärfungen gestellt, denen besser mit Solidarität als mit dem Ruf nach Repression zu begegnen ist.
Ideologiekritik blieb weiter zu sehr an den gesellschaftlichen Rändern kleben und wurde zu wenig auf den gewöhnlichen Nationalismus ausgeweitet (hab ich hier beim Thema Erdoğan und Coca-Cola versucht).
Aber
Dennoch gibt es in vielen Ländern die gleiche verzweifelte Hoffnung, dass sich angesichts von Trump, Macri, Kurz & Strache, Temer usw. mehr Leute über die Sehnsucht nach der weniger offensichtlich hässlichen linksliberal-sozialdemokratischen Bestechung hinaus nach links radikalisieren. Die Übergänge sind in der Medienwelt omnipräsent – von der Mainstream-Aufmerksamkeit für bewaffnete linke US-Gruppen wie Redneck Revolt, Trigger Warning et al., über Late Night Shows (Stephen Colbert erklärt Donald Trump Jr. Sozialismus anhand von Halloween-Süßigkeiten oder Samantha Bee über die mexikanische Brigada Feminista) bis hin zu Body Count’s unerwartet heftiger und deutlicher Klassenkampf-Hymne “No Lives Matter”, der aus Mitgliedern von Public Enemy, Cypress Hill und Rage Against the Machine entstandenen Prophets of Rage, Ladybabys umwerfender Forderung nach Lohnerhöhungen und hierzulande dem Album des Jahres: BSMG “Platz an der Sonne“.
CLASTAH 2017: “Stell die Verbindung her”, “Quality & Quantity”
Tweets
Stell dir vor, Hunderte aus dem kleinen #Themar stellen sich gegen Nazirockfestival & Presse nennt das “kaum einer”
Stell dir vor, Nazis beim Festival in #Themar gehen als friedlich durch, weil niemand so genau hinschaut
Stell dir vor, Gesellschaft ist so entsolidarisiert, daß vieles unbeachtet & ohne Unterstützung bleibt & sich das alle gegenseitig vorwerfen
Und nun stell dir vor, wie Solidarisierung zustandekommt: sich für andere interessieren, sich zusammentun & helfen, Arbeits- & Mietkämpfe…
January 2nd, 2018 at 12:35
3 Dinge:
Ladybaby <3
Du hast ja recht!
Ich werd's versuchen zu be<3igen!
January 2nd, 2018 at 14:43
Ach, Herzschn meinor! 🙂