“Das Kapital im 21. Jahrhundert” (Film ohne Marx)

October 22nd, 2019

Kino, kleiner Saal, intime Nähe zum übrigen Publikum. Werbung für Zwingli-Film, Mario-Adorf-Film (das letzte Mal, dass Marx hier heute wenigstens irgendwie im Bild ist), Ratzinger-Film, den Leonard-Cohen-Film, den ich bis zu diesem Trailer vielleicht hätte sehen wollen, zweimal Werbung für Kino (wir sind doch schon da!), einmal Düfte, einmal Volkshochschule, noch mal Kino und einmal Eis, dessen Verzehr schlank zu machen scheint.

Dann geht’s offenbar los, aber es geht mit dem Ende der DDR los, ich denke, okay, noch ein letzter Trailer vorm Hauptfilm. Dann ist Piketty zu sehen und zu hören, er redet vom “Mauerfall”, er hat selbst den Zusammenbruch persönlich erlebt hat (street cred!), das System war völlig gescheitert, das kommunistische Versprechen hatte sich als Betrug entpuppt – was er dazu eben so erzählt, ohne einen Pups Erläuterung (und ohne Marx, klar), these truths are held to be self-evident.

Vielleicht ist Piketty halt auch in einer anderen, schnell zum ’89-Jubiläum zusammengezimmerten Doku, und die wird hier gerade versehentlich oder als Vorfilm gezeigt, kann ja sein.

Nun spricht er von seiner Angst, die Ungleichheit des 18. und 19. Jahrhunderts würde wiederkehren. Weil dann nicht nur andere vom Hungertod bedroht sind, sondern vielleicht auch richtige Menschen wie er – das sagt er nicht, aber so langsam dämmert mir, dass es vielleicht einfach nur der falsche Piketty-Film ist, der gerade läuft, schnell zu irgendeinem Festivaltermin zusammengezimmert oder um ihn anzuschmieren oder so.

Es ist wie bei dieser “Per Anhalter durch die Galaxis”-Verfilmung von 2005, bei der ich auch lange dachte, ich hätte die verkehrte Datei gezogen.

Aber nun werden lauter Expert*n aufgefahren, und obwohl die schnellen Schnitte durch größtenteils wenig originelles historisches Doku- und Spielfilmmaterial (plus auch mal Simpsons und Family Guy, huiuiui) eher nach einer dieser Internet-Kolportage-Dokus aussehen, lässt sich ahnen, dass das wohl der ernstgemeinte und mutmaßlich relativ teure Versuch des angekündigten richtigen Films ist.

Wir sind, weil Piketty vor dieser Zeit Angst hat, im 18. Jahrhundert, Aristokratie lebt von Großgrundbesitz, der Begriff “Kapital” wird kurz aus einem Wörterbuch bestimmt (es wird keine weitere Erklärung dazu geben), bald darauf werden die Begriffe “soziales” und “kulturelles Kapital” ohne jede Erläuterung eingeworfen, im weiteren ist Kapital sowieso praktisch jede Art von Vermögen. Ausbeutung kommt nicht vor – der Skandal ist, dass niemand in die Klasse der Besitzenden aufsteigen kann. Und das wiederum scheint die “extreme Ungleichheit” zu sein, die deshalb Angst macht, weil sie zu Revolutionen führen kann. Das Bürgertum kommt also einmal mehr vor allem dadurch vor, dass es nicht vorkommt.

Ab hier ist der restliche Film ein extrem oberflächlicher Ritt durch die letzten 200 Jahre Wirtschaftsgeschichte, Kolonialismus, Krieg, Mode, Weihnachten, alles ohne auch nur einen Hauch Marx, ziemlich sauber die linksliberale Sicht, in der verschiedene schlimme Auswüchse durch umsichtige Mittelklasse-Politik erfolgreich eingedämmt wurden und in der Streiks nur selten und episodisch vorkommen um die umsichtige Politik zu bewerben. Revolutionen kommen, außer der Französischen, praktisch gar nicht vor, auch die Sowjetunion bleibt seltsam abwesend. In den 1920ern wollen die Arbeiter und die Frauen für ihren Einsatz im Krieg auch mal was zurück. Die Nazis kommen an die Macht, weil die Leute so arm sind. Dabei ist Hitler in der im Hintergrund eingespielten Rede sogar damit zitiert, dass es ab nun keine Klassen mehr geben würde, aber das wird hier einfach als Beleg behandelt, fertig. Ist das jetzt wirklich der richtige Film?

Irgendwie ist über weite Strecken nur zu erahnen, um welches Land oder welche Länder es gerade geht – Piketty redet sehr deutlich von Frankreich aus, andere der Expert*n eher von Großbritannien oder von den USA, das sagen sie aber nie dazu und selten ist klar, was sie gerade noch mitmeinen oder nicht. Der größte Teil der Welt fehlt eh. Es ist auch schwer im Kopf zu behalten, wer welchen Teil dieser ganzen Allgemeinplätze gesagt hat – einzige richtige Enttäuschung dabei: Paul Mason, von dem ich schon Schlaueres gehört zu haben meine.

Erst ab den 1970ern, als eine Periode umsichtiger Mittelklasse-Politik einfach so beendet wurde, galten Arbeitskräfte als Kosten, nicht als Asset. Seither bereichern sich zwielichtige Eliten, haltet den Dieb, hier wandert’s jetzt leicht ins Antisemitische. Krisen, die ins Bild passen: Ölkrise und 2008. Ein Monopoly-Experiment, bei dem offensichtlich bevorteilte Spieler ihren Sieg dennoch ihrer eigenen Überlegenheit zuschreiben, wird als Beweis dafür genommen, dass Menschen nun mal so verdrahtet sind, nicht dafür, dass das Spiel Scheiße ist.

Es folgen Klagen darüber, dass der Kapitalismus gar nicht mehr Innovation und Wachstum schafft (hier hätten sie eigentlich Wagenknecht hinzuholen können, aber die wäre ihnen am Ende trotzdem auch noch mit Marx gekommen), sowie Klagen über die soziale Leiter, die man nicht mehr hochkommt (keine Hinweise auf die Idee, die Leiter loszuwerden). Menschen werden ersetzbar wie einst Pferde, deshalb dreht sich das Kapital nicht mehr um Arbeitskräfte – ach hätten sie doch nur mal ein paar Seiten Marx gelesen, denke ich, und dann denke ich gleich, dass es mit ein paar Seiten wohl nicht getan wäre, und dann, dass sie vielleicht sogar mal genau die Passagen zum tendenziellen Fall der Profitrate gelesen haben, die an dieser Stelle hilfreich wären, damit aber für ihre eigene Position und die ihrer Zielgruppe einfach nichts anfangen konnten, weil sie lieber Mittelklasse bleiben wollen als sich mit den Ärmeren zur Überwindung des Klassenzoos zusammenzutun.

Wenn die Mittelklasse weiter schrumpft, sagt Piketty, besteht das Risiko, dass sie dann arm wird. Das Kapital ist nichts per se Schlechtes, sagt Piketty, solange nur jeder einen Teil davon besäße (jetzt ist endlich bald der Film zu Ende!). Das Ausmaß der Konzentration des Kapitals müsste durch Besteuerung begrenzt werden, sagt Piketty, die Ungleichheit darf nicht zu groß werden (sonst Revo!).

Und als Schlusswort sagt Piketty, er ist für Kontrolle des Kapitals und für die Überwindung des Kapitalismus. Wenn die Eliten endlich vom guten Staat ordentlich besteuert werden und Leute wie er auch weiter ein bisschen mehr vom großen Kuchen abbekommen, ist der Kapitalismus praktisch schon überwunden, ganze ohne das Kapitalverhältnis überwinden oder am Ende gar “Das Kapital” noch mal lesen zu müssen.

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