Juli 1923: ‘Antifaschistentag’, Streiks und militante Lohneintreibungen

July 28th, 2023

Am 29. Juli 1923 findet in Deutschland der erste ‘Antifaschistentag’ statt, in Sachsen und Thüringen sind 150.000 überwiegend sozialdemokratische und kommunistische Arbeitskräfte auf der Straße, trotz Verboten in Berlin etwa 200.000, im Bezirk Halle-Merseburg 30.000, in Nordbayern 18.000, anderswo wird auf geschlossene Räume oder Ausflugslokale ausgewichen. Hauptforderungen sind die Entwaffnung faschistischer Gruppen und der Rücktritt der bürgerlichen Reichsregierung.

In Rosenheim stürmen Konterrevolutionäre (Bund Bayern und Reich, Blücherbund, Bund Oberland, NSDAP) das Gewerkschaftshaus, prügeln auf die Versammelten ein und erstechen den Schlosser und sozialdemokratischen Gewerkschafter Georg Ott. Während 4000 Menschen seiner Beerdigung beiwohnen, nehmen Presse und Justiz die ‘Notpolizei’ in Schutz, es wird kein Verfahren eröffnet. Vielerorts gab es bereits im Vorfeld Repression, so wurden in München Plakatierende verhaftet.

Der martialische Ton des ursprünglichen Aufrufs vom 11. Juli (“Der Faschistenaufstand kann nur niedergeworfen werden, wenn dem weißen Terror der Rote Terror entgegengestellt wird”) war in der Mobilisierung und bei vorbereitenden Kundgebungen wie etwa in Solingen am 24. Juli einer klassenbewussten Abwehrposition gewichen, die die Macht der organisierten Arbeitskräfte der nur besser bewaffneten konterrevolutionären Minderheit gegenüberstellte. Plakate zeigten u.a. die zuvor mit dem Gedicht ‘Faschistenruf’ von Oskar Kanehl (“Wir hassen Juden und Proleten und werden sie zertreten”) in der Presse veröffentlichte Grafik von John Heartfield und George Grosz.

Von den Länderregierungen (Ausnahme: Baden und die ‘Arbeiterregierungen’ in Sachsen und Thüringen) wird der Tag angesichts der zugespitzten ökonomischen Lage als Aufstandsszenario behandelt, weshalb alle öffentlichen Versammlungen verboten werden. Um eine allgemeine Konfrontation mit Polizei und reaktionären Verbänden zu vermeiden, empfiehlt auch die KPD-Zentrale auf Drängen der Komintern eine Orientierung auf Veranstaltungen in geschlossenen Räumen. Die dennoch rege Beteiligung und die intensive Mobilisierung zeigen, wie realitätsfern die Vorstöße von Radek sind, mindestens taktisch auch um nationalistisch und faschistisch Gesinnte zu werben und sich mit ihrer Männlichkeit zu verbünden (‘Schlageter-Kurs’) – auch in Moskau gibt es diesbezüglich Dissens, Sinowjew schreibt an Thalheimer und Brandler, Radek mache den Fehler, “dass er nur eine Seite sieht: Zerlegung [Zerschlagung] der Faschisten durch Propaganda à la seine Rede über Schlageter. Er vergißt aber, dass ein guter Faustschlag am besten den Faschismus zerlegen [zerschlagen] würde.”

KPD-Linke suchen durch Übertreibung die Absurdität der Schlageter-Linie herauszustreichen, was zur grotesken Situation führt, dass Ruth Fischer, selbst wie Radek im Zentrum antisemitischer Propaganda über den “jüdischen Bolschewismus”, in einer Diskussion mit Studenten in einem Berliner Gymnasium diese damit herausfordert, ob sie statt nur die “Judenkapitalisten” an die Laterne zu hängen, das auch mit Stinnes, Klöckner usw. tun würden. Es ist unklar, ob Fischer sich hier wirklich kurzzeitig die Schlageter-Linie zueigen gemacht hat oder, wie bis unmittelbar vorher, sie (in krasser Unterschätzung des gesellschaftlichen Antisemitismus) durch Übertreibung bloßzustellen suchte. Im Ergebnis werden ihre Zitate im ‘Vorwärts’ unter der Überschrift “Ruth Fischer als Antisemitin” abgedruckt, und dienen als weiterer Beleg für alle in der SPD, die gegen ein Zusammengehen mit der KPD sind.

Doch an der Basis scheint es für den Augenblick eher, als würden die ökonomische Krise und die reale Bedrohung durch zur Macht drängende faschistische Organisationen die Basis der Arbeiterparteien gleichzeitig zusammenbringen und radikalisieren, weniger im Sinne einer sowjetischen Parteiherrschaft und mehr zur Verteidigung der Republik, vielerorts nach wie vor mit der Hoffnung auf eine “Sozialisierung von unten”.

Der massenhafte Zulauf zur KPD hält auch im Juli an, Dutzende kommunistische Betriebsgruppen gründen sich, die Betriebsrätebewegung nimmt an Stärke zu und es kommt – entgegen der Haltung von SPD- und Gewerkschaftsführung – zu einer weiteren Welle von Streiks (6. bis 12. Juli mehr als 130.000 Arbeiter der Metall-, Bau- und Holzindustrie, ab 25. Juli Kohlestreik im gesamten Zwickauer und Oelsnitz-Lugauer Revier). Regional sind die Gewerkschaften nun kommunistisch geführt, besonders in der Metall- und der Textilindustrie. Für den Stichtag 28.7. meldet ein interner KPD-Bericht 900 Proletarische Hundertschaften, von denen 182 kommunistisch und die übrigen gemischt sind. Besonders in Bayern, Sachsen und Thüringen sind viele der Hundertschaften sozialdemokratisch geführt. Bereits am 4. Juli beantragt die KPD-Reichstagsfraktion die “Erfassung der Sachwerte durch eine zu bildende Arbeiterregierung”, also eine “Zwangssyndizierung” um die ökonomische, währungspolitische und soziale Katastrophe abzuwenden.

Während weiterhin wie seit dem Frühjahr teilweise militante Preiskontrollen durch Betriebs- und Erwerbslosenräte in den Markthallen durchgeführt werden (etwa am 11. Juli in Potsdam und am 20. Juli in Breslau, wo die Polizei 6 Protestierende tötet), nehmen auch die Lohnforderungen offensiveren Charakter an. Besonders in Westsachsen und im Erzgebirge, wo Hundertschaften und KPD stark sind, werden Werksdirektoren direkt bedrängt und bedroht, Inflationsausgleich wird auf diese Weise unmittelbar durchgesetzt, so zum Beispiel am 18. Juli in Aue, in den folgenden Wochen in Zwickau, Lauter, Schneeberg, Limbach und Hermsdorf bei Burgstädt.

Nach dem Antifaschistentag gehen Streiks und Proteste weiter, neue flammen auf. Ab 31. Juli kommt es zu einer Streik- und Mobilisierungswelle mit den Zentren Ruhrgebiet, Mitteldeutschland und Hamburg/Wasserkante. In Neuruppin kämpfen Arbeiter am 31. Juli gegen Bismarck-Jugend (DNVP-Jugend) und Grundbesitzer, 1 Toter, 6 Verletzte. Am 1. August in Berlin Kommunisten gegen Bismarck-Jugend. Ebenfalls am 1. August in Oberhausen Arbeiter gegen Polizei, 2 Tote, 8 Verwundete. Betriebsdelegationen zum Reichstag fordern den Rücktritt der Regierung Cuno. Unterdessen fordert auch eine außerordentliche Konferenz der SPD-Linken am 29./30. Juli in Weimar mit 30 Reichstagsabgeordneten der SPD (Levi, Dissmann u. a.) den Rücktritt der Regierung und opponiert gegen die Politik des Parteivorstands. Am 30. Juli spricht schließlich auch die ADGB-Führung dem Reichskanzler das Vertrauen der deutschen Gewerkschaftsbewegung ab.

Eglantyne Jebb, Gründerin der britischen Wohltätigkeitsorganisation “Save the Children”, bringt angesichts des Schreckens der hungernden Kinder in Deutschland die “Erklärung für die Rechte des Kindes” beim Völkerbund in Genf ein, die 1924 angenommen und später Bestandteil der Grundsätze der Vereinten Nationen werden.

Der Kurs des US-Dollar überschreitet Ende Juli eine Million Mark.

Die bürgerliche Regierung scheint am Ende, immer größere Massen sammeln sich für die “Arbeiter- und Bauernrepublik”, es herrscht “Novemberstimmung”. Reichswehr, Reaktionäre und Faschismus wetzen die Säbel.


Morgen am 29.7.2023 veranstaltet die Geschichtswerkstatt Rosenheim einen antifaschistischen Stadtrundgang im Gedenken an Georg Ott. Und es gibt antifaschistische Proteste gegen die AfD in Magdeburg und gegen die Identitären in Wien.

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Verwendete Literatur:

Bayerlein u.a. (Hg.): Deutscher Oktober, 2003 (S. 85ff.)
Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923, 2022 (S. 192f.)
Sebastian Zehetmair: Im Hinterland der Gegenrevolution, 2022 (S. 383ff.)
Mark Jones: 1923, 2022 (S. 206, 228f.)
Volker Ullrich: Deutschland 1923, 2022 (S. 64)
Ralf Hoffrogge: Der kurze Sommer des Nationalbolschewismus, in: Sozial.Geschichte Online, Heft 20/2017 (S. 99–146)
Günther Gerstenberg: Wer am Abgrund tanzt – Notizen zu den Münchner Jahren zwischen Raterepublik und Hitler-Putsch 1919 bis 1923, 2023 (S. 123)

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
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