2. November 1923: Reichswehr in Zwickau und Chemnitz

November 2nd, 2023

Am 2. November 1923 marschiert die Reichswehr in Zwickau und Chemnitz ein, nachdem sie in den Tagen zuvor das “rote Herz” Westsachsen von Dresden, Leipzig und Plauen her eingekreist hatte. Hier war in Städten wie Crimmitschau in den 1860er Jahren die revolutionäre Sozialdemokratie mit ihren sozialistischen Bildungsvereinen und Zeitungen entstanden, wurde die erste Industriegewerkschaft gegründet, die sogleich auch Frauen offenstand. Später klärte der erbitterte Crimmitschauer Textilstreik von 1903/04 die Fronten im Klassenkampf – hier die landesweite und teilweise internationale Solidarität mit dem Kampf um den Zehnstundentag, dort die Einheitsfront aus Staat, Kirche und Bürgertum, schon bald ergänzt um den vom Kanzler des Jahres 1923 Stresemann gegründeten Verband Sächsischer Industrieller.

Wieder rückt die Reichswehr aus mehreren Richtungen gleichzeitig in die Städte vor, in Chemnitz gegen 10 Uhr von 5 Seiten je ein Bataillon konzentrisch zum Heumarkt, Polizeitruppen haben nachts bereits wichtige Gebäude besetzt, dann folgt das Programm der letzten beiden Wochen: Abschreckung und Überrumpelung, Verhaftungen und Willkür. In Zwickau wird das Sächsische Volksblatt besetzt und verboten, die Besatzung der Stadt dauert bis in den Dezember.

Während in Berlin alle Minister der SPD aus Stresemanns Regierung austreten, weil dieser den Abzug der Reichswehr aus Sachsen und jedes Vorgehen gegen Bayern verweigert, entwickelt die militärische Konterrevolution ein weiteres Mal ihre Eigendynamik. Ab 5. November beginnen Einheiten der Reichswehr mit dem Einmarsch in den benachbarten Osten von Thüringen, zunächst unter dem schon während des Vormarschs durch Sachsen üblichen Vorwands gegen Streiks oder Plünderungen (bzw. Beschlagnahmungsaktionen von Lebensmitteln zur Verteilung an Hungernde) einschreiten zu müssen. Notfalls werden Vorwände erzeugt: Waffenfunde, die zur Thüringer Polizei gehören, werden den Hundertschaften zugeordnet und als nachträgliche Bestätigung des Einmarsches herangezogen.

In Eisenberg wird der SPD-Bürgermeister verhaftet, in Wasungen läuft der Besitzer der Brauerei mit den Truppen durch den Ort und sagt ihnen, wen sie verhaften sollen, oft unterstrichen von Schlägen gegen die Betroffenen. Hier wird noch deutlicher sichtbar als zuvor, dass ein erheblicher Teil der Reichswehr eine eigene Agenda verfolgt und im wesentlichen das Modell Bayern durchzusetzen versucht: es werden so viele Abgeordnete und Amtsträger verhaftet, dass die linken Lokalverwaltungen handlungsunfähig werden, die rote politische Mehrheit untergraben wird. Dabei sind Revolution und Republik praktisch synonyme Vorwürfe. Der Thüringer VSPD-Abgeordnete Hermann Brill nennt es kurz darauf einen “indirekten Staatsstreich”, die “faktische Entmachtung der Landesregierung” unter “Ausnutzung des Ausnahmezustands”, spricht von gut abgestimmtem Vorgehen der Reichswehr mit der Allianz aus Bürgerparteien und Landbund, die sich im Februar 1924 mit Stimmen der NSDAP (Vereinigte Völkische Liste) zur nächsten Thüringer Regierung wählen lassen wird.

Die Reichswehr bewegt sich auf breiter Front immer tiefer nach Thüringen hinein, unterstellt sich am 6. November die Landespolizei und rückt aus westlicher Richtung in Gotha ein. Nachdem am 8. November Weimar besetzt ist (Hausdurchsuchung auch bei Bauhaus-Direktor Walter Gropius) und in Jena die Zuflucht der im August in Preußen und Ende September reichsweit verbotenen Betriebsrätebewegung erreicht wird, versucht die Arbeiterregierung der vollen “Reichsexekution” wie in Sachsen durch den Austritt der KPD-Minister am 12. November zuvorzukommen. Am 14. November wird der Landtag suspendiert, am 23. die KPD reichsweit verboten, Anfang Dezember tritt Ministerpräsident Frölich offiziell zurück. In heutigen Darstellungen dieses ganzen Vorgangs heißt es, die Thüringer Landesregierung habe sich “freiwillig aufgelöst”.

Wikipedia, das Deutsche Historische Museum und leider auch die RLS

Ab dem 2. November kommt es in Berlin zu einer Häufung von Plünderungen, besonders betroffen sind Bäckereien im osteuropäisch-jüdisch geprägten Scheunenviertel, das schon zuvor wiederholt sowohl von Pogromen wie von Polizeirazzien heimgesucht wurde. Als am 5. November die Auszahlung der Arbeitslosenunterstützung in der Gormannstraße wegen Geldmangels eingestellt wird, streuen Unbekannte antisemitische Gerüchte über Geldhortung und mobilisieren von dort eine Menge von Hunderten, die bald auf mehrere Tausend anwächst, ins benachbarte Scheunenviertel, wo es zu Angriffen auf Geschäfte und Personen kommt, die als jüdisch identifiziert werden. In der angrenzenden Friedrichstadt sind es NSDAPler aus der Universität, die ihnen jüdisch erscheinende Menschen auf der Straße verprügeln und bedrohen.

Jüdische Kriegsveteranen, bislang auf ihre Distinktion gegenüber den armen jüdischen Neuzugewanderten bedacht, kommen umgehend zu Hilfe, können Schlimmeres verhindern, indem sie vor der Volksbühne die Angriffe auf sich ziehen – die Polizei, die auffällig spät auftaucht, nimmt sie genauso mit wie etwa 200 andere jüdische Angegriffene. Einige von ihnen werden in der Haft so schwer misshandelt, dass die Beamten verurteilt und entlassen werden – auch damals ein seltener Vorgang.
Die SPD veranstaltet in den folgenden Tagen 12 Demonstrationen gegen die Gefahr des Antisemitismus – die Reichsregierung, aus der sie gerade ausgetreten ist, lässt die antisemitische Diktatur in Bayern unterdessen gewähren.

Als Hitler und Ludendorff am Vorabend des Revolutionsjubiläums ihre nationale Gegenrevolution ausrufen, um am 9. November von München ihren “Marsch auf Berlin” anzutreten und endlich den “Novemberverrat” zu tilgen, mit den “Novemberverbrechern abzurechnen”, sieht Diktator Gustav von Kahr mit der Zerschlagung der roten Regierungen in Sachsen und Thüringen, mit der “Ausräucherung” ihrer Basis und mit der weiteren Aussicht auf eine rechtsbürgerliche Reichsregierung, die gegen die “Ordnungszelle Bayern” nicht viel unternimmt, das für den Moment Mögliche soweit getan und möchte sich daher in kein aussichtsloses Abenteuer hineinziehen lassen. Schon gar nicht von denen, die seine Fußtruppen hatten sein sollen! Der heute immer noch oft drei Nummern zu groß “Novemberputsch” genannte Aufmarsch wird von den Gewehren der Polizei gestoppt. In einem kurzen Schusswechsel auf dem Odeonsplatz sterben 4 Polizisten und 13 der Hitlerleute.

Mit der gegen Hitler danach vor Gericht geübten relativen Milde können Karl Plättner und ein Dutzend derer, mit denen er nach der Niederschlagung des Mitteldeutschen Aufstands 1921 “revolutionären Bandenkampf” versuchte, nicht rechnen. Obwohl der Staatsgerichtshof in Leipzig, vor den die Angeklagten ihren vormals als Strafsache in Halle angesetzten Prozess nun als politischen haben bringen können, anerkennt, dass die Gewalt nur aus ihrer Drohung bestand und die Motivation nicht in Zweifel steht, werden bei der Verurteilung am 30. November gegen fast alle mehrjährige Gefängnisstrafen ausgesprochen, die Hälfte von ihnen kommt ins Zuchthaus. Obwohl sie in der langen Untersuchungshaft bereits erfahren mussten, wieviel Rachebedürfnis gegen ihresgleichen im Strafvollzug herrscht, belasten sie sich nicht gegenseitig und stehen zu ihren Taten. Plättner wird Anfang 1924 versuchen, seine sterbende Mutter in Thale zu besuchen, schließlich wenigstens an ihrer Beerdigung teilzunehmen, beides wird ihm kommentarlos verwehrt – die preußische KPD-Landtagsfraktion schreibt ihm, er solle sich keine Hoffnungen machen: “Ja, wenn du Hitler wärst oder zu dieser Gilde gehörtest, dann wäre das etwas anderes.”

Während Hitler im Februar und März 1924 das Volksgericht in München als Bühne benutzen kann und nicht vor den Staatsgerichtshof in Leipzig muss, lässt dieser anders als zuvor das Schwurgericht in Halle keine längere Verteidigungsrede Plättners zu. Er kommentiert die Verlesung der Strafanträge mit “Da pfeifen wir drauf!” und ruft nach der Urteilsverkündung laut in den Saal: “Lebt wohl, Genossen! Die Internationale wird die Menschheit sein!” Aus dem Zuschauerraum kommen Hochrufe zurück.

Reichswehr besetzt die “Neue Zeitung” der KPD in Jena, 11. November 1923

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
1923 August: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung
26. September 1923: Zweiter ‘kalter Putsch’ in Bayern
10. Oktober 1923: SPD-KPD-Regierung in Sachsen
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