Dezember 1923: Revolution zu Ende

December 1st, 2023

Vor 100 Jahren, im Dezember 1923, ist die Revolution nach fünf Jahren zu Ende – alle Versuche, die Produktionsmittel zu vergesellschaften und das Militär zu demokratisieren, die Kriegsverantwortlichen aus Großbürgertum und Offizierskorps zu entmachten, sind niedergeschlagen oder vereitelt. Tausende Aufständische, Streikende und Köpfe der Selbstorganisation sind ermordet, viele Tausend mehr in Gefängnissen, Zuchthäusern und Internierungslagern Misshandlungen ausgesetzt, der militärische Ausnahmezustand dauert noch bis Ende Februar an, der zivile bis Oktober.

Justiz und Staatsgewalt haben schon ihre legendäre selektive Härte gegen links und unten bei Milde gegen rechts und oben entwickelt, nicht zuletzt der Kontrast zwischen dem Vorgehen gegen die “roten” Freistaaten Sachsen und Thüringen und gegen die “Ordnungszelle” Bayern macht das deutlich, zwischen einerseits der Verhaftung von sozialistisch und republikanisch gesinnten Ministern und Bürgermeistern und andererseits dem Gewährenlassen der bayerischen völkisch-antisemitischen Diktatur, aber auch zwischen den langjährigen Zuchthausstrafen gegen Karl Plättners Leute für bloße Gewaltandrohungen und der nicht mal einjährigen Luxushaft für Hitler bei Freispruch für Ludendorff nach einem bewaffneten Putschversuch mit dem Programm des späteren NS-Staats. Während die Rote Hilfe, sofern legalistische Erwägungen aus der KPD sie nicht daran hindern, tut, was sie kann, ist die Option eines revolutionären Untergrunds mit der Verurteilung und Haft von Plättners Bandenstruktur erledigt. Unterdessen zieht die Reichswehr immer noch straflos im Regierungsauftrag ihre Blutspur durch Sachsen und Thüringen. Die neue konterrevolutionäre Landesregierung des Bürgertums und Grundbesitzes, die durch den militärischen Terror in Thüringen an die Macht geschoben wird, gewinnt die Wahlen im Februar auch mit Stimmen der NSDAP (Vereinte Völkische Liste). Sie hetzt u.a. gegen Bauhaus, worin sie allen “undeutschen Sittenverfall” konzentriert sieht, und wird es Ende 1924 aus Weimar vertreiben.

Die sächsische SPD, die sich Anfang Dezember auf ihrem Parteitag noch für eine erneute Beteiligung der KPD und “mit aller Entschiedenheit gegen die barbarischen Willkürakte … des militärischen Terrors” ausspricht, kann sich in der Folge nur in einer Koalition mit DDP und DVP an der Regierung halten, auf Reichsebene wird weiter bürgerlich durchregiert, nun ganz ohne SPD. Neuer Kanzler nach Stresemann ist seit Monatswechsel der Richter Wilhelm Marx von der katholischen Zentrumspartei, der mit drastischen Maßnahmen die am 15. November eingeführte Rentenmark zu stabilisieren sucht: Kürzungen öffentlicher Ausgaben, Kürzung der Gehälter der öffentlich Beschäftigten unter Vorkriegsniveau, Entlassung eines Viertels von ihnen (400.000 Beamte, Angestellte, Arbeiter), Soforteintreibung ausstehender Steuern in neuer Währung auf Grundlage von Daten aus dem Vorjahr (was Inflationsgewinne ausnimmt), Erhöhung der Wochenarbeitszeit im öffentlichen Dienst und als direkter Angriff auf die Errungenschaften der Revolution die Abschaffung des Achtstundentags. Dagegen streiken bis Januar Hunderttausende, können aber nichts mehr durchsetzen und werden massenhaft ausgesperrt. Zum Jahreswechsel beziehen 5,7 Millionen Arbeitslosenunterstützung, davon 3,5 Millionen Vollerwerbslose. Das Bürgertum war mit seiner Inflationspolitik bis an die Grenzen gegangen und lässt nun alle anderen die Rechnung bezahlen. Stinnes fädelt einen letzten großen Deal mit Frankreich ein, der zwar Reparationszahlungen enthält, welche die Zechenbesitzer jedoch größtenteils abwälzen können.

Nicht nur belässt die neue Regierung die Zustände in Bayern, der neue Reichsjustizminister Erich Emminger ist aus Kahrs und Knillings Bayerischer Volkspartei und setzt im Januar 1924 auf der Grundlage des geltenden Ermächtigungsgesetzes Verordnungen zur kostensparenden Verfahrensbeschleunigung durch, darunter die Abschaffung des Geschworenengerichts, die grundsätzlich bis heute noch gilt.

Und schließlich sagt immer noch der Reichspräsident, wann Demokratie ist, welche Wahlen und Regierungsbildungen anerkannt werden, wann die Armee einmarschiert und wann nicht, und auch wann das Parlament widersprechen kann – als am 13. März die Anträge von SPD, KPD und den Deutschnationalen gegen die Kürzungspolitik beraten werden sollen, löst Ebert den Reichstag auf, was Neuwahlen bedeutet, gerade wenige Wochen vor Ende der Legislaturperiode.

In der Sowjetunion sind die Ereignisse in Deutschland ein wesentlicher Teil des Machtkampfs um Lenins Nachfolge. Die Kominternführung legt wenige Tage vor Lenins Tod am 21. Januar eine verbindliche Lesart fest, welche die Geschichte der Revolution umschreibt und die Verantwortung für das Scheitern ihrer Intervention (‘Deutscher Oktober’), deren Planung wie auch Beendigung eng mit Komintern und KPdSU abgestimmt, weitgehend von ihr bestimmt worden waren, den Konstrukten eines zögerlichen Reformismus (Brandler) und eines revolutionären Abenteurertums (Radek) zuschiebt, zwischen denen sich Stalins Troika schließlich als die vernünftige Mittelposition inszenieren kann, die sich gegen den “Block der Rechten und Trotzkisten” durchsetzt und nun “Stabilisierung” treiben und diplomatische Beziehungen zum Westen aufbauen kann. In der KPD werden erst jetzt die an der Sowjetunion orientierten Kräfte tonangebend, die sich vom Programm der Revolution (Demokratie, Entmilitarisierung, Sozialisierung von unten) entfernen und die Partei als Vorhutorganisation nach bolschewistischem Vorbild zentralisieren und militarisieren werden (da ist nun der Bolschewismus, vor dem uns Ebert schon vorher gerettet haben will und dessen Aufstieg er mit seiner Terrorpolitik begünstigt hat) – diese neue Parteiführung wird bis auf Thälmann in den folgenden Jahren von der Stalinisierung verdrängt werden, die sie so selbst mit auf den Weg bringt.

Ohne das Korrektiv generalstreikender und aufständischer Massen kippt die deutsche Gesellschaft in der Folge weiter in den völkischen Nationalismus der alten herrschenden Klassen, verbleiben öffentlicher Raum und Wohnviertel immer vollständiger unter polizeilicher und kommerzieller Kontrolle, re-militarisiert sich der politische Diskurs. 1924 organisieren erst SPD, Zentrum und DDP ihre Weltkriegsveteranen im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, dann die KPD die ihren im Roten Frontkämpferbund. 1925 wird Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt.

Die eintretende ökonomische Stabilisierung beruht maßgeblich auf US-amerikanischen Interventionen in die Reparationsverhandlungen, der folgende Aufschwung basiert, wie in Frankreich und Großbritannien, auf US-Krediten, und endet wie dort mit dem Ausbruch der großen Krise 1929. Kurz davor ist die SPD noch mal an der Regierung, bis sie über eine geringfügige Erhöhung des Arbeitslosengeldes stürzt und das Bürgertum endlich beginnen kann, die parlamentarische Demokratie wieder auseinanderzunehmen. Mit der Machtübernahme der Nazis kommt 1933 schließlich die militärische Konterrevolution selbst an die Macht, wiederholt, was sie zuvor im Regierungsauftrag getan hatte, und weitet es in die ganze Gesellschaft und schließlich in weite Teile der Welt aus. Den Jahrestag der Revolution überschreiben sie mit dem Jahrestag ihres konterrevolutionären Putschversuchs, auf brutalste Weise am 9. November 1938. Ihr Weltkrieg gegen die “jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung” soll bis zuletzt die Revolution rückgängig machen, Hitler will “den deutschen Arbeiter für die Nation” zurückgewinnen, sieht hinter sich “ein Volk” marschieren, “und zwar ein anderes als das vom Jahre 1918”.

Mark Jones sieht wie viele andere in der endgültigen Niederschlagung der Revolution und der Ebnung des Weges zur Macht für die militärische Konterrevolution den “Sieg der Demokraten”, weil so das Bild von der “gegen links wie rechts wehrhaften Weimarer Demokratie” gerettet werden kann. Bis heute dominiert die politische Auswahl zwischen Ebert oder Lenin, während die Stinnes, Kahr und Hitler stets parat stehen.

Die Revolution war jedoch nicht erfolg- und folgenlos, ihr Beispiel könnte immer noch Ansporn sein: am stärksten war die Revolution in den Momenten der Massenstreiks und der kollektiven Selbstermächtigung, dann konnte sie den Weltkrieg beenden, die Monarchie stürzen, ein bis dahin ungekanntes Niveau an Arbeitsrechten und politischer Beteiligung durchsetzen, Mittel und Zugänge nach unten umverteilen, 1920 einen frühen faschistischen Putsch vereiteln und schließlich 1923 sogar Teile des Großbürgertums zum vorübergehenden Bekenntnis zur Republik nötigen. Unverändert bleiben auch heute die stärksten Waffen der Arbeitskräfte ihr massenhafter egalitärer Zusammenschluss, ihre organisierte Verweigerung und Selbstaufklärung.

Vor 100 Jahren war die Revolution zu Ende, und dieses Ende hat bis heute nicht aufgehört.

Die Bildcollage aus zwei Zeichnungen von George Grosz in “Das Gesicht der herrschenden Klasse” (1921) zeigt die Sieger – Tucholsky: “das meisterlichste Bildwerk der Nachkriegszeit” – Grosz und Heartfield werden im Februar 1924 für “Ecce Homo” auf Grundlage des Unzuchtsparagrafen (§ 184 StGB “Angriff auf die öffentliche Moral”) zu Geldstrafen verurteilt, Grafiken werden konfisziert, Vorlagen zerstört

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• 1923 beginnt: Was bisher geschah
• 1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
• 1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
• 1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
• 1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
• 1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
• 1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
• 1923 August: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung
• 26. September 1923: Zweiter ‘kalter Putsch’ in Bayern
• 10. Oktober 1923: SPD-KPD-Regierung in Sachsen
• 2. November 1923: Reichswehr in Zwickau und Chemnitz

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