Landtagswahl ’24 in Thüringen
February 9th, 2024Staatsgewalt drückt „Ordnungsbund“ an die Macht, Tolerierung durch antisemitische „Vereinigte Völkische Liste“
Am 10. Februar 1924 wird die Liste “Ordnungsbund”, eine gegen die ‘Arbeiterregierung’ aus SPD, USPD und KPD gerichtete Wahlallianz des gesamten bürgerlich-nationalistischen Spektrums (DVP, DNVP, DDP, Mittelstandspartei, Landbund, Zentrum, Vaterländische Verbände), die stärkste Kraft bei der Landtagswahl in Thüringen.
Obwohl die Reichswehr, die das Land seit ihrem Einmarsch Anfang November unter Besatzung und im militärischen Ausnahmezustand hält, alle Register zieht um den Machtwechsel in der letzten Hochburg der Revolution zu forcieren, und obwohl sich die Widersprüche zwischen den roten Parteien im Zuge der militärischen Repression verschärft haben, erreichen diese immer noch fast 42 Prozent der Stimmen, so dass es für den Ordnungsbund nicht zur Regierungsmehrheit reicht. Die neue Landesregierung des Juristen Richard Leutheußer (DVP) lässt sich von der “Vereinigten Völkische Liste” bzw. dem “Völkisch-Sozialen Block“ unter dem bekannten Antisemiten Artur Dinter tolerieren, diese Wahlverbindung fungiert auch als Front für die verbotene NSDAP.
Der Ordnungsbund ist zum Jahreswechsel gegründet worden, um “die sozialistisch-kommunistische Mehrheit im Landtag gründlich zu brechen”, das fragmentierte bürgerlich-agrarische Lager im Stile der Wahlbündnisse gegen die Sozialdemokratie im Kaiserreich zu vereinen und die Wählerschaft durch nationalistische Propaganda zu mobilisieren. Wahlkampfkosten trägt der Verband der Mitteldeutschen Industrie.
Die Reichswehr unter General Paul Hasse und die ihm unterstellte Thüringer Landespolizei unter Polizeioberst Hermann Müller-Brandenburg (ab 1926 Landesführer im “Werwolf”, später in der Führung des NS-Reichsarbeitsdienstes) erklären ausdrücklich ihre Unterstützung, helfen handgreiflich durch die Fortsetzung der flächendeckenden Repression gegen sozialistisch und republikanisch gesinnte Personen, gegen Strukturen und Basis der ‘Arbeiterregierung’, und organisieren indirekte Wahlkampfspektakel, deren Höhepunkt die Truppenparade zum Jahrestag der Reichsgründung 1871 in Versailles am 18. Januar bildet. Stundenlang marschieren Reichswehr und Kriegervereine durch Weimar, General Hasse gibt in seiner Rede den Takt vor und erklärt, dass für jeden wahren Deutschen der 18. Januar der höchste nationale Feiertag sein müsste. Während “die Väter” in Versailles das Deutsche Reich geschmiedet hätten, unterschrieben “Männer unserer Zeit” dort den “Schandfrieden” von 1919. Mit entschlossenem Blick in die Zukunft ruft Hasse aus: “Wenn das Schicksal das deutsche Volk noch einmal nach Versailles führen sollte, dann darf es dort nicht so stehen, wie das letztemal, sondern nur so, wie unsere Väter und Vorväter dort standen.”
Es wird überdeutlich, dass sich hier Kaiserreich und Republik gegenüberstehen. Das Bürgertum, das fünf Jahre lang versucht hat, die Revolution rückgängig zu machen, muss angesichts der letzten Welle der Revolution 1923 seine Putschpläne aufgeben und zähneknirschend die Republik akzeptieren um an der Macht zu bleiben. Die Errungenschaften der Revolution werden nun nach und nach kassiert, der Achtstundentag ist schon gefallen. Auch in Thüringen wird dieser Rollback begleitet von einem Kulturkampf zwischen Deutschlandlied und Internationale, Reichsfarben und roter Fahne, Prügelstrafe und säkularer Volksbildung (Max Greil). Entsprechend wird der Tag von Versailles begangen und die gesetzlichen Feiertage zum 1. Mai und zum 9. November werden abgeschafft.
Überhaupt sollen in Thüringen “keine halben Sachen wie in Sachsen” gemacht werden, wo die SPD zumindest in einer Koalition mit bürgerlichen Parteien weiter regieren kann. Thüringen, wo entscheidende sozialistische Parteigründungen stattfanden (in Eisenach die SDAP 1869, in Gotha die SAPD 1875 und die USPD 1917) und wo die Revolution fünf Jahre lang eine ihrer Hochburgen hatte, soll umgedreht werden wie Bayern nach der Niederschlagung der Räterepublik ab April/Mai 1919, Thüringen soll die neue “Ordnungszelle” werden.
Das Bodensperrgesetz wird aufgehoben, der “freie Grundstücksverkehr” wiederhergestellt. Örtliche Selbstverwaltung wird zugunsten von Bürokratie und Exekutive umgebaut, Amtsträger erhalten ihre alten Titel zurück. Verdächtige Beamte werden entlassen. Das Züchtigungsverbot in den Schulen wird teilweise wieder aufgehoben, die von Volksbildungsminister Greil gegen Widerstände aus der Universitätsleitung in Jena gestützte Erziehungswissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät wird 1. März aufgelöst. Bauhaus, eins der Lieblingsziele der konterrevolutionären Propaganda, wird am 1. April aus Weimar nach Dessau vertrieben.
Für die SPD-Landtagsfraktion wird 1926 das Wirken der Regierung bis dahin “in einer
rücksichtslosen Durchsetzung der Interessen der besitzenden Klassen auf dem Gebiet der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik gegen die Bedürfnisse der arbeitenden, schwer notleidenden, besitzlosen Volkskreise” bestanden haben: “Die wirtschaftliche Ausbeutung, die der Ordnungsbund mit Hilfe der Gesetzgebung betrieb, wurde durch eine an Skandalen reiche Kulturreaktion im Bildungs- und Rechtsleben ergänzt, der ganze Staatsapparat unter Vernichtung aller demokratischen Entwicklungen zu einem Machtinstrument der Bürokratie und Polizei gegen das Volk und vor allem zur Unterdrückung der Arbeiter umgestaltet.”
Aber nicht nur das: Artur Dinter kann sich mit der Forderung durchsetzen, dass in der Regierung nur “deutschblütige, nichtmarxistische Männer” sitzen dürfen. Als in der Folge jüdische Regierungs- und Verwaltungsbeamte entlassen werden, tritt die DDP aus dem Ordnungsbund aus, dem sie mit zur Macht verholfen hat. Gleich im März 1924 erwirkt Dinter auch die Aufhebung des Verbots der NSDAP und anderer Gruppen in Thüringen, wodurch sich die neue “Ordnungszelle” nach Bayern zum zweiten großen Aufmarschgebiet der Nazis entwickeln kann. Hitler ernennt Dinter zum Dank noch aus der Festungshaft in Landsberg zum NSDAP-Gauleiter Thüringen. Nach den Landtagswahlen im Dezember 1929 wird die NSDAP in Thüringen erstmals Teil einer Landesregierung zusammen mit DVP, DNVP, der Mittelstandspartei und dem Landbund.
Die Revolution ist vorbei und der totale Sieg der Konterrevolution wird vorbereitet.
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Am 8. August spreche ich in Eisenach über diese Landtagswahl.
Bei der Landtagswahl 2024 bezieht sich die Vorsitzende der “Bürger für Thüringen” explizit auf die Wahl von 1924: “Die Geschichte hat gelehrt, dass ein solches Bündnis erfolgreich sein kann, wie vor 100 Jahren der Thüringer Ordnungsbund…”
Mehr zur Thüringer Arbeiterregierung und ihrem Ende bei Mario Hesselbarth, dessen Veröffentlichung aus dem September 2023 ich viel Material für dieses Posting entnehmen konnte.
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23
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