“Augusterlebnis” – Wie die SPD-Parteiführung den Ersten Weltkrieg auslöste
August 4th, 2024Am 4. August 1914 stimmt die SPD-Reichstagsfraktion dem “Gesetz, betreffend die Feststellung eines Nachtrags zum Reichshaushaltsetat für das Rechnungsjahr 1914“ und damit Kriegskrediten über 5 Millionen Mark zu – es ist das erste Mal, dass die SPD einem Haushalt zustimmt, sie stellt sich damit auf die Seite der kaiserlichen Herrschaft und der deutschen Kriegspartei, besiegelt das Zerbrechen des Friedensbündnisses der deutschen und französischen Sozialisten, der Sozialistischen Internationale insgesamt, und zerstört jede Möglichkeit, die rollende Eskalation des österreichisch-ungarischen Überfalls auf Serbien in den Weltkrieg durch länderübergreifende gemeinsame Aktion der Arbeitskräfte aufzuhalten.
Dabei hatte es nur wenige Tage vorher noch ganz anders ausgesehen: am 28. Juli protestieren reichsweit über 500.000 sozialdemokratische Arbeitskräfte gegen den Krieg (ein Fünftel davon Frauen), wehren Angriffe durch berittene Polizei und bürgerlich-nationalistische Gruppen ab, entwenden in Hamburg ihrerseits einem Pro-Kriegs-Aufmarsch eine österreichische Fahne. In Berlin sammeln sich trotz Demonstrationsverbot etwa 100.000 bei 27 Versammlungen und versuchen dann ins Stadtzentrum zum Sitz der kaiserlichen Regierung zu gelangen, woran die Polizei sie mit gezogenem Säbel hindert – am Volkspark Friedrichshain und in der Kochstraße gibt es dabei viele Verletzte. Das deutsche Generalkonsulat in Moskau meldet, Arbeiter seien gegen die Mobilmachung, auch Bauern und Bürgertum seien nicht kriegslustig.
Tags darauf, während Belgrad mit Panzerschiffen beschossen wird, reagieren Kaiser und Militär, indem sie die russische Teilmobilisierung zur Unterstützung Serbiens als gegen Deutschland gerichtet behandeln und nun gleichzeitig mit Belagerungszustand nach innen und Ultimatum gegen Russland nach außen drohen.
Am 31. Juli ermordet ein katholischer Verbindungsstudent in Paris Jean Jaurès, den damals wohl weltweit bekanntesten Kriegsgegner, dessen Sozialistische Partei nach ihrem Wahlsieg gerade im Begriff ist die neue französische Regierung zu bilden und der bis zuletzt auf Friedensdemonstrationen spricht. Während die Arbeitskräfte noch den Schock seiner Ermordung verdauen, erklärt das Deutsche Reich am 1. August Russland den Krieg und besetzen deutsche Truppen in der folgenden Nacht Luxemburg.
Die SPD-Reichstagsfraktion sammelt sich nun in Berlin. Gleich am 2. August entscheidet sich der Fraktionsvorstand mit 4 zu 2 Stimmen für die Unterstützung der angekündigten Kriegsgesetze, neben den Millionenkrediten vor allem “Burgfriedens”-Maßnahmen, die Wahlen, Streiks und Versammlungen unterbinden.
Am 3. August tritt die Fraktion zusammen und lässt sich von nationalistisch entflammten Abgeordneten mit Einfühlung in die Oberste Heeresleitung (wie Albert Südekum und Ludwig Frank) durch das Versprechen eines kurzen Kriegs und schnellen Siegs, durch drohendes Parteiverbot und die Möglichkeit eines Loyalitätsbeweises fürs Kaiserreich ebenfalls zur Zustimmung zum “Dienst am Vaterland” aufwiegeln – 78 gegen 14 Stimmen.
Schließlich tagt am 4. August, als deutsche Truppen in Belgien einmarschieren und der Krieg gegen Frankreich erklärt ist, der Reichstag und bewilligt einstimmig die Kriegsgesetze. Parteivorsitzender Friedrich Ebert, der zwischenzeitlich die Parteikasse in die Schweiz verbracht hatte, ist zurück in Berlin und einverstanden. Der andere Parteivorsitzende Hugo Haase, gewissermaßen das deutsche Pendant zu Jaurès, der maßgeblich die Gegenstimmen in Vorstand und Fraktion organisiert hatte, beugt sich gegen seine Überzeugung der Fraktionsdisziplin und verliest die von Südekum inspirierte Erklärung: „Wir lassen das eigene Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich“. Haase wird zusammen mit weiteren Kriegsgegnern 1916 von der SPD-Führung hinausgedrängt und gründet 1917 die USPD mit.
Erst jetzt erfolgt die französische Kriegserklärung – und erst jetzt ist die sozialistische Internationale zerbrochen. Der verbreitete Mythos der spontanen Kriegsbegeisterung auch unter den Arbeitskräften Europas (“Augusterlebnis”) verdeckt, dass bis zur SPD-Entscheidung für den Krieg das Baseler Friedensmanifest von 1912 gilt (“die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen [sind] verpflichtet alles aufzubieten, um durch Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern. (…) Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.”), dass überall Hunderttausende gegen den Krieg protestieren und sich erst jetzt die Gesamtlage zu einem von der größten sozialistischen Organisation der Welt unterstützten Überfall auf Serbien, Belgien, Luxemburg und Frankreich gedreht hat. Vor allem für die französischen Arbeitskräfte gibt es nun zur Verteidigung gegen den Einmarsch keine sinnvolle Alternative mehr, was sich in den folgenden Tagen durch das brutale deutsche Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung immer weiter bestätigt.
Erst jetzt ist durch die einseitige Aufkündigung der Friedensbeschlüsse die Sozialistische Internationale zerbrochen und die Entfaltung des bis dahin verheerendsten Krieges der Weltgeschichte nicht mehr aufzuhalten. Erst die 1918 in Deutschland beginnende Revolution wird ihn beenden.
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