Geschichte ist keine Ausrede
February 17th, 2005(Grundlagentext zu meinem Vortrag an diesem Sonntag, 20.2., in Potsdam, Geschichtssalon im Café Heider, Friedrich-Ebert-Str. 29, 18 Uhr: Nationale Geschichtsschreibung: Wozu und für wen wird Geschichte geschrieben?)
„Die Geschichte ist noch nicht geschrieben, Marty!“ (Doc Brown in „Zurück in die Zukunft“)
GESCHICHTE IST KEINE AUSREDE.
Wir werden von der Geschichte nichts lernen, wenn wir sie etwas lehren wollen. Die historische Mission eines revolutionären Subjekts, ein Letzter Großer Ruck oder die Überlegenheit der indogermanischen Rasse lassen sich nicht nachweisen und ebensowenig ableiten. Sie repräsentieren nur das Bild, das einige von uns teilweise völlig unabhängig von historischen Untersuchungen als ihr favorisiertes auserkoren haben.
Sehr wohl möglich erscheint es mir, abstrakt gesprochen, das heute Greifbare als Produkt des bisher Geschehenen zu setzen und somit die Geschichte aus der Gegenwart mit ihren materiellen und ideellen Spuren der Vergangenheit zu extrapolieren – das jedoch immer mit dem wachen Blick auf die Wahrscheinlichkeiten der Resultate und auf die Geltungsbereiche der angewandten Modelle und Methoden.
Die Ruinen, Urkunden, Religionen, Ideologien, all die absichtlichen und unwillkürlich hinterlassenen Spuren müssen in diese Welt gebracht worden sein; die Logik unterstellt dabei aus den Schichten tatsächlich unternommener Grabungen eine Reihenfolge der Geschehnisse, aus denen sich wiederum Wahrscheinlichkeiten für einschichtig abgelagerte oder an der Oberfläche befindliche Artefakte ermitteln lassen.
Dabei sollte jedem Buch, vor allem den älteren, komponierten – auch den jeweils liebsten und just originell ausgelegten – weniger vertraut werden als den vorgefundenen Müllhaufen, Lavakonservierungen oder den eben zum Teil noch immer „historischen“ Bewohnern entlegener Landstriche. Was sich in den ausgegrabenen Müllhaufen findet, was sich in vom Vulkan bespuckten Orten als Bild erhalten hat, muß zu einer bestimmten Zeit so bestanden haben; was bis in die jüngste Vergangenheit isolierte Insulaner ohne unsere „zwingenden Vorbedingungen“ genauso zuwegebrachten, kann aus ihren Lebensbedingungen, die einmal zum Teil die hiesigen gewesen sein könnten, erklärt werden.
Das Dokument jedoch muß bezweifelt werden, gerade weil es Zeugnis menschlichen Geistes ist, welcher einzigartig darin ist, die Unwahrheit, die Fehlwahrnehmung, das Irrationale und dem bereits gefaßten Urteil entsprechend Gemachte zu beweisen und in aller schillernden Pracht darzustellen: die Zahl besiegten Gegner wird so sehr übertrieben wie die Zahl der Konvertierten und die Qualen der eigenen Märtyrer; die eigenen Verbrechen werden verniedlicht, zu Notwendigkeiten erklärt oder neuerdings gar als Akt der eigenen Läuterung verkauft. Die Folgerichtigkeit der bisherigen Geschichte wird wie in einem Lebenslauf für ein Bewerbungsschreiben nicht zuletzt dann herausgearbeitet, wenn die Eignung für den angestrebten Posten umstritten ist. Der schwache Herrscher, der sich zum Größten aufschwingt, benötigt Titel und belegte Besitzansprüche; die schwache oder noch unscharf gefaßte Nation bedarf der prunkvollsten Geschichte, um „über allem in der Welt“ stehen zu können.
Sich in diesem Dickicht von zu Siegen umgeschriebenen Niederlagen (wie beispielhaft der nur als phantastische Erzählung funktionierende Triumphzug des Willens durch Alexander den Großen) und zu aufopfernder Niederlage stilisierten eigenen Blutbädern (hier sei vielleicht an die zahlreichen in diesem Ton schwelgenden Kreuzzugsdarstellungen erinnert) zurechtzufinden, ist nicht leicht, ist vielleicht gar nicht möglich. Wer braucht das „reichliche halbe Jahrtausend“ maurischer Herrschaft auf der iberischen Halbinsel dringender zur Legitimation: die nordafrikanischen Moslems, die Portugiesen, die Spanier? Das heutige Europa, die heutige arabische Welt? Wem dient wiederum die reconquista als Grundlage für welche späteren oder heutigen Ansprüche? Wer hat nun wen wirklich aus der Geschichte getilgt oder andersherum sinnlos überhöht? Wer macht das heute noch?
Anhaltspunkte bietet immerhin der Blick auf die eigentlichen Revolutionen innerhalb der Geschichtsbetrachtung. Da steht zuallererst Scaligers Chronologie, welche alle, die sie in Bezug auf die Vergangenheit anwendeten, dazu verleitete, die banalen und unlogischen Ereignisse zu einem Regierungsprogramm zurechtzuschreiben.
Mindestens ebenso wichtig sind die mit der Französischen Revolution verbundenen Veränderungen in der Vorstellungswelt, die wiederum einen historischen Sinn und einen politischen Willen – zum Zwecke der Sinngebung der damaligen Gegenwart – weitestmöglich in die Geschichte zurück projizierten. Zufälle wurden – sofern sie nicht schon vorher als schicksalhaft dargestellt worden waren – zu Bedeutsamkeiten; schon aus zwei für meßbar und zeitlich bestimmbar gehaltenen Ereignissen wurden Gesetzmäßigkeiten abgeleitet. (Darin später unübertroffen die logische Herleitung der jeweiligen revolutionären Situation durch die Marxisten-Leninisten)
Die bürgerliche Revolution spiegelte sich überallhin, schuf ein dramatische, komponierte und in sich abgeschlossene Geschichte voller vernünftiger Anordnungen und voller Strafen für Unmoral. Wieviele historische Figuren sollen an ihrer Hybris gescheitert sein? Wieviel waren Sklaven von Orakelsprüchen und göttlichen Eingriffen? Wie oft soll gerade die Anmaßung darin bestanden haben, ohne Rücksicht auf Gott und Schicksal zu handeln?
Die Hybris-Anschuldigung wurde dann von vermeintlich zeitgenössischen Historikern in Form von zu modernen Gerichtssaal-Reden vorgetragen. Der Angeklagte handelte unmoralisch, die Bestrafung soll ihm seine Verfehlung vergegenwärtigen und ihn (und alle anderen) wieder auf den Teppich holen – das ist der Kern der Hybriserzählung (des „5. vorchristlichen Jahrhunderts“) und die Grundidee der aufgeklärten Justiz (seit dem 18. Jahrhundert).
Wir müssen also den Erzählmustern lauschen, die Form verstehen und vor allem überlegen, wer von der Geschichte angesprochen werden soll und angesprochen wird.
Nehmen wir ein allen vertrautes Beispiel aus dem 20. Jahrhundert, in dem die Hybris immer noch zu walten schien. Hitler wird in der heutigen Erzählform, etwa in den populären Fernsehfilmen Guido Knopps oder auch in den akademischen Arbeiten eines Götz Aly, als Sozialpolitiker mit einer „dunkeln Seite“ geschildert. Die Geschichte treibt mehreren Höhepunkten zu, unterbrochen von ebenso dramaturgisch begriffenen Rückschlägen. Wie im Dramenschema bricht auf dem Höhepunkt der Macht der Wahnsinn allmählich durch. Hitler lügt nicht mehr nur selbst, sondern hat einen hauptamtlichen Lügner eingestellt; statt wie jeder andere Staatsmann auch einfach Krieg zu führen, gibt es zu viel Grenzüberschreitung. Er übernimmt sich, der Wahnsinn kumuliert, am Ende – nach retardierenden Momenten wie der Einnahme Stalingrads oder der Ardennenoffensive – stehen Niederlage, Selbstmord und der Triumph der vernünftigen Außenwelt.
Diese Schilderung ist heute deshalb die bevorzugte, da sie alle anderen maximal entschuldigt, die so nur zur Staffage in einer zeitgemäßeren Macbeth-Aufführung herabgestuft werden. Die Rede von Hitlers Selbstüberschätzung verdeckt seinen – gemessen am in „Mein Kampf“ formulierten Vorsatz – beispiellosen Erfolg, eine Nation völlig in den Dienst von Krieg und Vernichtung gestellt zu haben; ein so unvorstellbares Vorhaben wie die Ausrottung der überall in der Welt verstreut lebenden und weitgehend assimilierten Juden so weit getrieben zu haben; eine Armee aufgestellt zu haben, die bis zur letzten Patrone für die „Sache“ kämpft und sich selbst opfert. Die dramatische Lösung wiederum suggeriert ein plötzliches Verpuffen des Spuks mit dem Fall des Vorhangs bei Kriegsende und verstellt völlig den Blick darauf, wieviel akkumulierten Wert die Nazis dem Nachkriegsdeutschland in Gestalt der um ein vielfaches perfektionierten und ausgebauten Infrastruktur, der angesammelten Vermögen und der Millionen ausgebildeter und bis zum blinden Gehorsam disziplinierter Facharbeitskräfte hinterließen; ein Effekt, der denn auch folgerichtig mit einem „Wirtschaftswunder“ beschrieben werden muß.
Logisch war an der Nazizeit also genau die verbissene Abarbeitung eines von einem einzelnen Autor als „Antenne seines Volkes“ ausgearbeiteten Programms, die Deutschen so identisch zu machen, daß sie zu perfekt funktionierenden Teilen der zu einem gigantischen Monopol zusammengeflossenen Staatswirtschaft, zu gesunden Zellen des vorgestellten „Volkskörpers“ werden konnten. Für die so vollständige Verschmelzung, die anderswo immer wieder versucht, so jedoch glücklicherweise bisher nicht wieder erreicht wurde, war die Austreibung des Abweichenden grundlegend. Nur ohne diejenigen, die das geschlossene Gesamtbild störten, konnte die Volksgemeinschaft zu ihrer schließlich erreichten und in den die halbe Welt überziehenden hochtechnisierten Massakern manifestierten Schlagkraft auflaufen.
Die Geschichte vom tragischen Hitler, der an seiner Hybris scheiterte, soll uns also beruhigen und vermag das offenbar auch angesichts aufmarschierender Imitatoren recht gut. Wie würde man sich auch fühlen, wenn einem klar wäre, daß in jedem Quentchen Wohlstand der Großeltern, der Eltern, eines selbst die Vernichtung der Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuellen, Sinti und Roma und all der anderer Nichtpassenden, Nichtidentischen steckt? Ganz genau, man fühlte sich nicht schuldig und auch ohne Not, Buße zu tun; sondern man fühlte den Zorn, zum Komplizen gemacht worden zu sein, der in einstmals arisierten Wohnungen wohnt, am Tag im Schnitt drei Wörter originales Nazivokabular in den Mund nimmt und der immer noch die Vorstellung im Kopf mit sich herumträgt, wie sich der Menge ein Ruf wie aus einem Munde entringt. Sollte sich Schuld auch ablegen lassen, wie das gegenwärtig gerade durch ihre Pathologisierung als zu überwindender Schuldkomplex geschieht, die Komplizenschaft kann man wachen Bewußtseins eigentlich nicht weitergeben.
Gerade dieses wache Bewußtsein ist der neben Chronologie und Dramaturgie dritte wichtige Angelpunkt einer erzählsensiblen Neusichtung der Geschichte. Dem Bewußtsein fällt es immer schwer, sich eine Welt ohne sich vorzustellen, oder eine Weltanschauung eines anderen, vielleicht weniger komplexen Bewußtseins. Es tut dem Gegenstand der Geschichte damit zweierlei an. Zum einen wertet es Ereignisse und Hinterlassenschaften enorm auf, ohne gewahr zu bleiben, daß diese zugeschriebenen Werte werden in den Dingen stecken, noch vom Vorgeborenen ebenso, wenn überhaupt, zugeschrieben wurden, ja worden sein können. Wie der Mensch tierische Gefühlsäußerungen für menschliche halten kann, kann er auch historische Handlungen im Licht (bzw. Schatten) seiner eigenen – verkennen. Die erste Wirkung des modernen geschichtsbewußten oder geschichtsbewußt werdenden Menschen besteht also darin, dieses historische Bewußtsein den historisch Handelnden zu unterstellen, sowohl was Auswirkungen als auch zeitliche Tragweite anbetrifft. So müssen die mumifizierten Pharaonen ihre spätere Verwendung als Bürgen für die sich auf sie berufenden Herrscher gewissermaßen sogar beim Bau der Pyramiden selbst mitgedacht haben – was nicht sehr wahrscheinlich aussieht und die Frage aufwirft, wem diese Bürgschaftsfunktion der Reinkarnation so klar gewesen sein kann, um diesen umfangreichen baulichen und organisatorischen Prozeß in Gang zu bringen. Es geht also nicht um das Leninsche Cui bono, den Urheber im Profitierenden zu suchen, sondern darum, die Einzelnen oder Gruppen ausfindig zu machen, die diese nicht eben absichtslos aussehenden historischen Mechanismen in ihren Folgen abschätzen konnten.
Der zweite Effekt hat wie die Dramaturgie etwas mit Sinnstiftung zu tun. Da das Geschichte betrachtende Bewußtsein von der inneren Logik und Stringenz der eben im wahrsten Sinne des Wortes menschengemachten Geschichte – also der durchkomponierten und zutiefst moralisch geschriebenen Geschichte – überwältigt ist, nimmt es darin einen Urheber wahr, den es zunächst traditionell als Gott bezeichnet, später als Höchstes Wesen und Weltgeist, im Laufe der Zeit mit den Namen jeder bekannten für ordnungsbildend oder eben chaosstiftend gehaltenen Kraft: Buddha-Sein, Yin & Yang, Wahrer Wille, historische Gerechtigkeit, Ewiger Diskord usw. usf.
Die Erkenntnis, die hier vorbereitet wurde, könnte sich als zutiefst verunsichernd, gern aber auch als befreiend erweisen: daß Menschen wirklich ihre Geschichte geschrieben haben, weshalb sie so sinnhaft erscheint; daß weiter wir uns in unserer Geschichte als Autor wiedererkennen, nicht also das reale Geschehen, sondern unsere Interpretation, unsere Absichten, Wünsche und vor allem unsere Denkmuster; daß noch weiter Menschen, seit sie Geschichte zu schreiben begonnen haben, ihre Gegenwart an ihr messen und bis zu einem hohen Grad bereit sind, ihr Handeln als historisches anzusehen; daß schließlich sowohl die Geschichte vor der Geschichtsschreibung wie auch die zukünftige nach einer zu erhoffenden Lösung von historischem Zwang viel brüchiger, merkwürdiger, komplexer, unmoralischer, banaler und insgesamt eben sinnloser aussieht; daß – um doch noch eine Programmansage zu machen – der Sinn und Wert von einzelnen Menschen verliehen werden können und angesichts der Millionen ihrer historischen Inkongruenz wegen Hingeschlachteten auch verliehen werden müssen.
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