Passendes, mit sich selbst identisch

December 6th, 2006

Am Montag schickte sich im Neuen Berliner Geschichtssalon Ulrich Voigt an, eine Kritik der Chronologiekritik zu formulieren.

Vorweg sei gesagt, daß ich die Veranstaltung vorzeitig verlassen mußte und nicht weiß, ob nach den miterlebten anderthalb Stunden noch etwas Wichtiges folgte (andere, die bis zum Schluß blieben, sahen keine weiteren klärenden Gedanken)

Voigt referierte sein forthkommendes Buch über Francesco Bianchini und entfaltete dabei auf schwer nachvollziehbare und didaktisch grauenvolle Weise einen kalender-mathematischen vorgeblichen Beweis dafür, daß die Illigsche These der Phantomzeit falsch sein müsse.

Ganz abgesehen davon, daß Illigs 297 Jahre im anwesenden Kreis, welcher komplette Geschichts-Jahrtausende bezweifelt, als Reformismus gelten dürften; und auch abgesehen davon, daß der Begriff der Phantomzeit nicht von Illig stammt und Illig auch nicht, wie behauptet, “die ganze Diskussion begonnen hat”; ebenso abgesehen davon, wie triftig die mathematischen Überlegungen sein mögen, war der Vortrag auf einer grundsätzlichen Ebene eine Zumutung.

Als würde er mit kleinen Kindern sprechen, wies er jeden Einwand barsch als indiskutabel einfältig zurück (“Darüber spreche ich gar nicht”, “Das versteht sich doch von selbst”), bemerkte dabei nicht, daß die Fragen alles andere als unüberlegt waren, etwa die, warum er die von ihm interpretierte Ostertafel ohne zu überlegen von rechts nach links liest. Er wies das wiederum ohne zu überlegen zurück (“Ist doch selbstverständlich, natürlich”) und überhörte offenbar auch die darauffolgende Bemerkung der Fragenden, sie hätte ja nur angenommen, er würde diese Vorgehensweise aus etwas schließen, aber er schlösse wohl aus nichts.

Im Laufe der Veranstaltung wurde es in bezug auf die Fragestellung immer ärgerlicher, da er Chronologiekritik auf ein rein rechnerisches Problem und Illigs 297 Jahre reduzierte; als Lehrstunde in Akademikerpsychologie war es jedoch unbestritten wertvoll.

“Die Länge der Phantomzeit ist gleich null”, behauptete er etwa und fuhr fort: “Ich will Sie an die Hand nehmen und zeigen, warum ich das glaube.” Daraufhin murmelte der ältere Salonbesucher, der mit uns am Tisch saß: “Jaja, glauben.”

Er kündigte keine vorgenommene Setzung an, ließ die Zuhörer die gesamte Zeit im Unklaren darüber, worauf er überhaupt hinaus wollte und feierte sich unablässig selbst in Distinktion zum Publikum: “Ich bin ja Mathematiker”, “Ich bin ja Wissenschaftler”, “Ich bin ja überhaupt der einzige Kalenderforscher, der so rechnet”, “Ich liebe ja Zahlen”.

Inhaltlich unterliefen ihm Fehler in Serie. Eine für seine Argumentation zentrale “14” auf der Ostertafel zeigt eine im Griechischen ungewöhnliche Dezimalkonstruktion und würde selbst dann eher eine 12 sein, für die 14 gibt es ein anderes, eigenes Zeichen. Den auf der Tafel ausgewiesenen “Autokraten Alexander”, den es in der Geschichte wohl so häufig gegeben haben soll wie kaum einen anderen Herrschernamen, legt er wie seine barocken Vorbilder in unverständlicher Gewißheit auf Alexander Severus fest. Aus dem Umstand, daß die Tafel wirkt als wäre sie nachträglich in die sie umfassende Statue eingearbeitet worden, folgert er nicht nur, diese müsse älter sein, sondern sie ist plötzlich gleich “deutlich älter”. Eine von ihm selbst als “Herrentag” wörtlich übersetzte Inschrift assoziiert er zwingend mit Ostern.

In summa könnte man seine Argumentation so zusammenfassen: Da die Ostertafel – bereinigt – ihre Überschrift bestätigt und die – bereinigte – Überschrift die Tafel, ist alles wunderbar gefügt. Da also die innere Logik schlüssig ist, kann die historische Realität vollständig ausgeblendet werden.

Am schönsten jedoch der Vorwurf, zu dieser Tafel, die allgemein bisher sehr wenig Beachtung gefunden zu haben scheint und die offenbar nur von Voigt als so bahnbrechend angesehen wird, habe sich bisher noch kein Chronologiekritiker geäußert.

Wie schön wäre eine triftige Kritik gewesen.

16 Responses to “Passendes, mit sich selbst identisch”

  1. bigmouth Says:

    phantomzeit? warum nicht noch dringend die flat-earth-society widerlegen?

    das ist nicht wirklich ernst gemeint, sich damit auseinander zu setzen, oder? nur mal ein kleienr hinweis: es gibt auch aussereuropäische geschichtsschreibung. 300 jahre differenz wären da bestimmt aufgefallen…

  2. classless Says:

    Wie gesagt schießt Voigt hier völlig an der Chronologiekritik vorbei, wie sie von Gabowitsch betrieben wird. Ich sehe diese teils viel radikalere und teils viel selbstdistanziertere Geschichtskritik als eine sehr anregende Infragestellung des geläufigen Weltbildes, ohne entscheiden zu wollen, inwieweit sie haltbar ist.

    Ich schließe jedoch die Möglichkeit nicht aus, daß noch viel mehr als 300 Jahre nicht nur nicht aufgefallen sein könnten, sondern würde durchaus sagen, daß die Tätigkeit der Historiker zumeist der Mehrung des Ruhms ihrer Auftraggeber diente, was sich am direktesten in der Erzeugung von mehr, schillernder und eben längerer Geschichte niedergeschlagen haben dürfte.

  3. spange Says:

    ist schon etwas länger her, dasz ich das illig buch gelesen habe, und liegt hier auch nicht mehr rum, daher korrigier mich bitte bei fehlern, musz das grad ausm gedächtnis zusammenkratzen.

    die these von illig ist ungefähr wie folgt zur auszer-europäischen zeit: die “dunklen” flecken müszen nicht unbedingt am stück und zur gleichen zeit sein, sondern können auch durchaus mal vorher / nachher n paar jahre gewesen sein. etwa die dunklen jahrhunderte in griechenland zw. 1050 v.u.Z. und 800. vermutlich müszten die jeweiligen dunklen jahrhunderte meistens vor otto gewesen sein, die zeitl. synchronisation zwischen europa und der arabischen welt war dann ja durch die kreuzzüge relativ gut, bei sowas sind militärische ereignisse eine der besten möglichkeiten, da schlachtdaten eben bei “beiden” seiten auftauchen. militärisch kann man dann die europäische geschichte iirc bis an die “asiatische” zeit anbinden, einfall der mongolen in japan 1274.

    imho ist das “problem” mit illig auch ein anderes: illigs these – gerade den architektur teil – find ich ziemlich stark. beeindruckend auch, wie gut er die paar funde aus der karolinger zeit den merowingern oder ottonen zuschlagen kann. ihm gegenüber steht da die phalanx der historiker die sich auf ihre urkunden berufen, und den interdisziplinären ansatz den illig vorschlägt einfach ablehnen. selbstreflexion ist nicht so ihr ding…

    http://de.wikipedia.org/wiki/Phantomzeit-These
    http://de.wikipedia.org/wiki/Dunkle_Jahrhunderte

    dem wunsch nach einer kritik an illigs these die nicht auf kindergarten trotz niveau ist schliesze ich mich an. bei hsozkult wurde ja auch kaum auf ihn eingegangen iirc.

  4. nonono Says:

    Merkwürdig, dass ihr erst jetzt drauf anspringt – der Kulla schreibt doch schon die ganze Zeit über Chronologiekritik und Geschichtskritik. Und mit Illig hat er sich offenbar nicht aufgehalten – hier ging es immer um Fomenko, Gabowitsch und Topper, die gelich die kompletten Epochen kicken.

  5. Aber andererseits // GR/ML siegt! Says:

    […] Daniel Kulla: “Ich sehe diese teils viel radikalere und teils viel selbstdistanziertere Geschichtskritik als eine sehr anregende Infragestellung des geläufigen Weltbildes, ohne entscheiden zu wollen, inwieweit sie haltbar ist.” (da) […]

  6. nonono Says:

    Ich weiß, ich weiß, man soll den Troll nicht füttern, aber das ist ja mal echt der herbeiphantasierteste Faschismusvorwurf, den ich in den letzten Monaten zu Gesicht bekommen habe! Wow! Es ist ja nicht mal zu sehen, wo hier irgendwas ästhetisiert wird. Wegen “anregend”? Wegen “Weltbild”? Es ist so haltlos. Haua, haua, haua.

  7. gr/ml Says:

    Wo siehst du da einen Faschismusvorwurf? Das ist zuerst ein Vorwurf an Kullas Versuch, sich gegen Kritik zu hermetisieren: die Wahl des Gegenstandes sei bewusst nicht rational, sondern Folge persönlichen Geschmacks. Kann man machen (die universitäre Sozialwissenschaft lebt vom freien Assoziieren). Kritisch wird es an der Stelle, wo er den Anspruch der Kritik (also “entscheiden zu wollen, inwieweit sie haltbar ist”) ganz zurückstellt gegen das Auratische der (“sehr anregenden”) Fragestellung. Dass das einer — zumal explizit antikritischen — Ästhetisierung der Politik gleichkommt ist hier — na? –: haltbar! 🙂

  8. nonono Says:

    Ich sehe den Faschismusvorwurf darin, dass du dein Posting mit Bestimmungen Benjamins zum Faschismus, den er zweimal ausdrücklich nennt, einleitest. Oder ist das schon so reflexartig, dass es dir selbst gar nicht mehr auffällt?

    Und ich hatte wirklich recht, dass du eine faschistoide Ästhetisierung der Politik daraus ableitest, dass Kulla eine bestimmte Wissenschaftskritik anregend findet? Krass – du hättest deine zehn täglichen Denunziationen für die Partei früher schnell zusammengehabt. Oder wie heißt es bei “Helden wie wir”: “Manche brauchen Jahre, um so zu denken.”

  9. gr/ml Says:

    Na und? Meine Denunziation stimmt wenigstens, im Gegensatz zu Kullas Wissenschaftskritik-Nichtkritik.

  10. classless Says:

    Och, nicht schmollen, lieber Troll 😉

  11. Hagbard Jesus Celine Says:

    Oh yeah, der Schmolltroll!

  12. Torsten Says:

    @Bigmouth:

    Das funktioniert ganz einfach: Die katholische Kirche fängt damit an sich einige hundert Jahre an Geschichte zu erfinden. Da können dann aber die Herrscher in den christlichen Ländern nicht hintenanstehen, also wird deren Geschichte auch erfunden. Der Islam sagt sich, was die Christen können, können wir schon lange, also: islamische Geschichte wird erfunden. Und Indien, China und Japan und wer sonst noch so (Persien und so) können nicht auf sich sitzen lassen, dass sie die einzigen Völker dieser Erde sind, deren Geschichte nicht so alt ist, also erfinden sie sich auch ihre Geschichten. Das wunderbare ist, dass alles wahnsinnig gut zusammenpasst. Ist wahrscheinlich das größte Wunder der Menschheitsgeschichte. Überall auf der Welt werden Jahrhunderte und Jahrtausende an Geschichte in allen auch nur denkbaren Details erfunden und es gibt keine wirklich gravierenden Widersprüche.
    Was man bei den Theorien von Topper, Fomenko, Gabowitsch und wie sie alle heißen nicht sagen kann. Die Fälscher der Vergangenheit hatten eine viel, viel größere und bessere Phantasie als die heutigen vermeintlichen Rekonstrukteure.

    Da wird nur eines produziert: Viel heiße Luft!

  13. classless Says:

    @Torsten
    Dafür, daß ich erst wenig Gelegenheit zur Erklärung hatte und ich das Gefühl nicht loswerde, daß du der Chronogiekritik mit Arroganz und Verachtung gegenüberstehst, hast du es ja schon ganz gut begriffen. Auch wenn es bei dir noch arg mechanisch klingt und du mir endlich mal sagen könntest, warum dich diese Gedanken eigentlich so beständig aufregen.

  14. Torsten Says:

    Ich stehe der Chronologiekritik nur mit einem gehörigen Maß an Kritik gegenüber, die sich besonders auf ihre unübersehbaren methodischen Schwächen bezieht, nämlich nur das zu sehen, was sie sehen will und alles andere auszublenden, auf die Tendenz ihrer Vertreter sachliche Kritik mit persönlichen Beleidigungen zu beantworten oder vollkommen zu negieren.
    Ich stehe der Chronologiekritik kritisch gegenüber, weil sie Weltbilder jenseits aller Plausibilität produziert und nicht im Traum daran denkt, diese vernünftig zu begründen (nach Maßstäben der Wissenschaftlichkeit: Nachprüfbarkeit u.ä.)
    Ich stehe der Chronologiekritik kritisch gegenüber, weil sie mit nichtigen Argumenten die Wissenschaft niederzumachen versucht und die ehrliche und mühsame Arbeit von Wissenschaftlern mit Begriffen wie ‘Erbsenzählerei’ und viel besseren negiert.
    Ich stehe der Chronologiekritik kritisch gegenüber, weil es einfach nicht funktioniert. Und ich stehe den Chronologiekritikern kritisch gegenüber, weil sie absolut resistent gegenüber Kritik sind.
    Warum mich das aufregt? Keine Ahnung. Wahrscheinlich ein Charakterfehler.

  15. nonono Says:

    @Torsten
    Das heißt, du gehst unsachlich mit ihnen um, weil sie unsachlich mit dir umgehen? Du hältst sie für unplausibel, weil du sie für unplausibel hältst? Du wirfst ihnen vor, was sie den Historikern vorwerfen? Du hältst sie für kritikresistent, weil sie sich nicht überzeugen lassen und stattdessen dich kritisieren?

    Hm, interessanter Fall… 🙂

  16. Torsten Says:

    @nonono:

    Falsch! Wo gehe ich unsachlich mit ihnen um? Ich sehe mir ihre Theorien an, erkenne, dass sie die Quellen ihren Theorien anpassen und nicht aufgrund der Quellen eine Theorie entwickeln. Mit dieser Arbeitsweise kann ich alles beweisen! Das ist unsachlich und nicht statthaft. Das ist etwas, warum man sie nicht ernst nehmen kann!
    Ich äußere sachliche Kritik an ihren Weltbildern und sie kontern dies mit unsachlichen Bemerkungen und persönlichen Beleidigungen. Warum gehe ich da unsachlich mit denen um?
    Ich halte ihre Theorien für unplausibel, weil sie unübersehbare Löcher haben!
    Ich werfe ihnen vor, dass sie zwar die Historiker kritisieren, aber eine eigene Vorgehensweise haben, die auch kritisierbar ist – und zwar in höchstem Maß (Theorien nicht aufgrund von Quellen zu entwerfen, sondern die Quellen der Theorie anzupassen und aus reiner Willkür, d.h. nicht nachvollziehbar und damit auch nicht kritisierbar, Quellen anzuerkennen, wenn sie meiner Theorie passen, sie zu verwerfen, wenn sie meiner Theorie widersprechen.) Das hat mit Wissenschaftlichkeit nichts, aber auch nicht das geringste zu tun!
    Ich halte sie für kritikresistent. Ja! Aber nicht, weil sie sich nicht überzeugen lassen, sondern weil sie nicht bereit sind, sich mit sachlicher Kritik auseinanderzusetzen. Sie können mich gerne kritisieren, aber bitte auf sachlicher Ebene, mir Fehler in meiner Denkweise, in meiner Argumentation nachweisen. Ich muss sie nicht überzeugen, sie mich nicht. Aber wenn man Kritik an einer Theorie äußert, dann kann man sich mit dieser Kritik auseinandersetzen. Passiert dies nicht, dann muss man eben damit leben, dass man als kritikresistent bezeichnet wird. Und bevor jetzt der Einwand kommt, dass sich auch die Historiker nicht mit den Theorien der CK auseinandersetzt, also auch kritikresistent ist: Wenn es die CK jemals schaffen sollte eine wissenschaftlich und methodisch korrekte Theorie auf die Beine zu stellen (etwas also, wo nicht Willkür in der Quellenbehandlung uvm.) vorherrscht, dann wird sich auch die Wissenschaft mit dieser Theorie auseinandersetzen.

    nonono: Sie haben mich komplett mißverstanden. Ob dies bewußt geschehen ist, kann ich nicht entscheiden. Meiner Meinung nach habe ich nichts von dem, was Sie geschrieben haben, auch nur im Ansatz so gesagt, geschweige denn, gemeint!

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